Die Spinne (German Edition)
Sprung nach vorn!« Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie auf seine deliriösen Worte hin das Glas abgestellt und ihn sitzen gelassen hätte. Oder wenn sie ihm gleich den Chardonnay ins Gesicht geschüttet hätte.
Doch sie behielt das Glas in der Hand und fragte: »Haben Sie schon gegessen?«
»Nein.«
»Vielleicht wäre ein Restaurant eine gute Idee?«
Sie nahm sich seiner an. He Qiang hatte eine gute Wahl getroffen.
Als sie ein Lokal oben an der Minsheng Road vorschlug, klopfte er sich auf den Bauch und teilte ihr mit, dass es jetzt vor allem auf Schnelligkeit ankam, also eilten sie ins Fook Lam Moon in einem anderen Flügel des Hotels. Zhu bestellte Haifischflosse, während sich Liu Xiuxiu für gebratenen Reis mit Huhn und Tintenfisch entschied. Während er sich zur Vorspeise mit gekühlten Krabben vollstopfte, blickten sie hinaus zum Bund, wo sich unter die Hochhäuser europäische Banken und Firmengebäude aus der Kolonialzeit mischten. Der Anblick erfüllte ihn mit dem Wunsch, über Geschichte zu reden, doch er erholte sich bereits wieder von seiner Idiotie und wollte sein Schicksal nicht weiter herausfordern. Seine nächste Frage stellte er auf Englisch. »Wie lange sind Sie schon in Shanghai?«
Sie lächelte bescheiden und legte die Hände unter dem Tischrand in den Schoß. In dem veränderten Licht des Restaurants schimmerte ihre Haut wie trübes Glas, und er fragte sich, ob er wohl bei ausreichend heller Beleuchtung hindurchsehen könnte, bis zu ihren Organen und Blutgefäßen.
In durchaus kompetentem Englisch antwortete sie: »Ich bin vor sechs Jahren angekommen, um an der Jiaotong-Universität zu studieren, aber …« Sie verstummte. »Das Akademische liegt mir nicht.«
»Haben Sie eine Aufenthaltsgenehmigung?«
Sie nickte, ohne sich näher zu äußern.
»Und woher kennen Sie He Qiang?«
Wieder ein Lächeln. »Seine Cousine war meine Klassenkameradin in Xinyang, und nach meiner Ankunft hier habe ich mich bei ihm gemeldet. He Qiang war sehr freundlich zu mir.«
Zhu fragte sich, wie freundlich und über wie viele Vorschriften He Qiang sich für diese hübsche junge Frau hinweggesetzt hatte. Doch er hatte noch immer keine richtige Mahlzeit bekommen, und bis dahin konnte er weiter großherzig sein. »Es ist bestimmt sehr schwer.«
»Ja, das war es.« Sie neigte den Kopf. »Und ohne Freunde wie He Qiang wäre es noch viel schwerer gewesen. Aber jetzt habe ich …« Wieder stockte sie, dann blickte sie auf. »Ich habe mich arrangiert.«
Ihre schlichte Feststellung hatte etwas Ergreifendes, das Zhu fast die Tränen in die Augen trieb. Er verstand, warum He Qiang sie zu dieser fingierten Verabredung mit ihm bestellt hatte. Sie war entzückend und bereit, mit ihm ins Bett zu gehen, falls ihm der Sinn danach stand, doch ihr eigentlicher Wert lag in der Tatsache, dass sie sich mit dem harten Leben in Shanghai arrangiert hatte. Sie konnte sich mit allem arrangieren, auch mit der Arbeit für einen anstrengenden Mann wie Xin Zhu.
Neben ihren guten Kenntnissen in Englisch, das sie in der Schule gelernt und dann bei ihrer Arbeit perfektioniert hatte, konnte sie auch ein paar Brocken Deutsch. Als er sie über Shanghai ausfragte, stellte er fest, dass sie sich an die unbedeutendsten Einzelheiten erinnerte – die Farbkombinationen von Ladenschildern, die Namen der meisten Hotelportiers in der Stadt und auch die ihrer Gattinnen – und dass sie nichts von dem vergaß, was er sagte. Vor allem aber schaffte sie es, wahrscheinlich ebenfalls aufgrund ihrer Arbeit, mit geradezu unheimlicher Sicherheit dafür zu sorgen, dass er sich in ihrer Gegenwart wohl in seiner Haut fühlte, und das war keine Kleinigkeit.
Das Essen war köstlich und stärkend, nur sie rührte ihren Reis kaum an. Erst als er zum Nachtisch eine Obstplatte bestellte, machte sie sich mit Heißhunger darüber her. Sie zögerte keine Sekunde, als er sie in sein Zimmer einlud, doch im Aufzug schien sie nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte, und ließ die Hände am Körper. Er sperrte auf und ließ sie vor sich eintreten. Sofort bemerkte sie He Qiang, der in der Badtür stand und sie mit Gesten zum Schweigen aufforderte. Auch das brachte sie erstaunlicherweise nicht aus der Fassung. Sie trat zur Kommode und wartete, die Hände vor dem Bauch gefaltet. He Qiang lächelte Zhu an.
Zhu nahm das Jackett ab. »Du bist wirklich eine wunderschöne Frau.«
Mit einem Lächeln antwortete Liu Xiuxiu: »Sie sind sehr freundlich.« Dann fügte sie hinzu:
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