Die Spinne (German Edition)
Vergangenheit und auch seine kurze, aber erfolgreiche Amtszeit als Minister für Staatssicherheit schützten ihn und seine derzeitige Stellung im Politbüro vor den meisten Angriffen.
»Shanghai war der richtige Ort, um einen klaren Kopf zu bekommen.«
»Das wird heute nützlich sein.«
»Auf jeden Fall.«
Zhu verneigte sich kurz und zog sich nach rechts zurück, um sich auf dem mittleren Stuhl niederzulassen. Shen An-ling nahm auf einem Holzstuhl hinter ihm Platz und fing an, in seiner Tasche herumzuwühlen.
Der Aufsichts- und Verbindungsausschuss war 1992 als Ableger des Zentralkomitees für Politik und Recht gegründet worden, dessen sechs Mitglieder sich mit der Aufgabe überfordert sahen, das gesamte Spektrum des chinesischen Gesetzesvollzugs zu überwachen. Das führte zur Gründung eines getrennten Ausschusses mit sechsundzwanzig Mitgliedern, die sich vorwiegend mit Konflikten zwischen den Ministerien befassten, die in den Neunzigerjahren sprunghaft zugenommen hatten. Der diesjährige Sekretär war ein Zentralkomitee-Aufsteiger namens Yang Xiaoming aus Sichuan, der aber mehr Interesse an seinen Ölkonzernen hatte als an Treffen des Ausschusses. Den größten Teil seiner Pflichten nahm sein Stellvertreter Wu Liang vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit wahr. Xin Zhu war zwar schon viele Male vor dem Ausschuss erschienen, um dessen Fragen zu beantworten, aber man hatte ihn nie eingeladen, dem Gremium beizutreten.
Yang Qing-Nian, das jüngste Mitglied des Ausschusses, schlenderte zusammen mit dem hochgewachsenen Wu Liang herein, der genauso alt war wie Xin Zhu. Beide kamen herüber, um ihm die Hand zu reichen, und Zhu war überrascht, dass Wu Liang keinerlei Schadenfreude anzumerken war. Der stellvertretende Sekretär hatte sich große Mühe gegeben, dieses Treffen in die Wege zu leiten und seine Tagesordnung geheim zu halten, doch nach seinem Benehmen zu urteilen, hätte es auch eine Konferenz zur Erörterung von Verkehrsampeln in Lhasa sein können.
»Wie geht es Sung Hui?«, fragte Wu Liang.
»Danke, sehr gut.«
»Das freut mich. Eine wunderschöne Frau.«
»Und Chu Liawa?«
Wu Liangs Frau war älter als er und eine Nachhut-Tigerin wie aus dem Bilderbuch, so hieß es zumindest. Sie hatte ihren Mann in immer höhere Ränge lanciert und dafür gesorgt, dass er sich gegen Konkurrenten in Yunnan, Nanning und zuletzt Peking durchsetzte, wo er im letzten Jahrzehnt bis zur Spitze aufgestiegen war, während unerträgliche Autokraten wie Xin Zhu in ihren staubigen Büros blieben und dort ihre Zeit mit dem Sammeln von Informationen verplemperten.
»Sie ist sehr gesund«, antwortete Wu Liang schließlich. Von seinen Lippen klang es wie eine Drohung.
Yang Qing-Nian sagte gar nichts, und das musste er auch nicht. In seinem Gesicht spiegelte sich die Schadenfreude, die sein kultivierter Patron nicht zeigte.
Als Nächster trat Feng Yi ein und schüttelte allen in der korrekten Reihenfolge ihrer politischen Bedeutung die Hand: zuerst Wu Liang, zuletzt Xin Zhu. Im Gegensatz zu den anderen war er ein Politiker durch und durch, der sich den Weg in den Ausschuss durch Schmeichelei und Verschwiegenheit geebnet hatte und feste Meinungen um jeden Preis vermied. In jüngerer Zeit hatte er einen hohen Posten im Zweiten Büro des Guoanbu ergattert, doch noch immer legte er bei wichtigeren Themen größte Zurückhaltung an den Tag.
Zhang Guo hingegen schüttelte niemandem die Hand. Er trat mit einer Mappe ein, die er an die Brust drückte wie ein Schulmädchen, suchte sich einen freien Platz und packte seine Zigaretten aus. Er wirkte müder als die anderen, vielleicht war es auch Angst. Als ein Kellner Tee servierte, wanderte Zhang Guos Tasse zitternd zu den Lippen. Anders als bei dem Treffen am Freitag waren seine Augen blutunterlaufen, und Zhu begriff plötzlich, dass das nichts mit dem Ausschuss zu tun hatte; nein, Zhang Guo machte wohl gerade die Erfahrung, dass eine junge Geliebte – vor allem die bekannte Chi Shanshan – einem Mann in seinem Alter ziemlich zusetzen konnte. Anscheinend hatte seine Begeisterung einen empfindlichen Dämpfer erhalten.
Aus unerfindlichen Gründen hatte Wu Liang die Besprechung nicht im üblichen Gebäude anberaumt, sondern diesen freien Saal des Zentralkomitees reserviert. Da es sich um ein inoffizielles Treffen handelte, nahmen nur diese fünf Ausschussmitglieder teil. Zhu hatte keine Ahnung, wie viele eingeladen worden waren, doch er bezweifelte, dass Yang Xiaoming, der
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