Die Spinne (German Edition)
abwesende Leiter des Ausschusses, Bescheid wusste. Selbst wenn man ihn informiert hätte, hätte er sicher die Katastrophe in seiner Heimat Sichuan vorgeschützt, um sein Fernbleiben zu entschuldigen.
Als der Kellner verschwunden war und der Wachposten die Tür geschlossen hatte, stand Wu Liang müde auf und stellte ein digitales Aufnahmegerät in gleicher Entfernung von allen Anwesenden auf den Boden. »Für alle Fälle«, bemerkte er, als er zu seinem Platz zurückkehrte.
»Für welchen Fall?«, fragte Zhu.
»Für den Fall, dass es später Diskussionen gibt«, antwortete Wu Liang. »Wir sind alle nicht mehr die Jüngsten, außer Yang Qing-Nian vielleicht.« Er lächelte. »Ich würde mich bei sicherheitsrelevanten Themen ungern ausschließlich auf unser Gedächtnis verlassen.«
»Sehr vernünftig«, bestätigte Zhu. »Und ich möchte mich beim Ausschuss für die heutige Einladung bedanken. Es ist mir eine große Ehre.«
»Quatsch«, ging Yang Qing-Nian dazwischen. »Ich schlage vor, wir schenken uns die Formalitäten. Können wir uns darauf einigen?«
»Yang Qing-Nian spricht mit der Stimme der Jugend.« Wu Liangs Ruhe bewies, dass sie diesen Ausbruch geplant hatten. »Ich bin bereit, auf Formalitäten zu verzichten, da es sich hier um ein inoffizielles Treffen handelt, das dem Informationsaustausch dient. Doch es ist nicht an mir, dieses Boot zu lenken. Wie ist die Meinung der anderen?«
»Waren die besseren Räume besetzt?« Die Frage kam von Sun Bingjun, der an einem Mundwinkel kaute.
Wu Liang blinzelte ihn erstaunt an. »Ja, Genosse Generalleutnant. Um diese Zeit ist viel Betrieb, und ich habe erst in letzter Minute angefragt.«
Sun Bingjun stellte seine Teetasse ab und nickte. Feng Yi sagte: »Von mir aus können wir auf Formalitäten verzichten.« Auch Zhang Guo neigte den Kopf, um sein Einverständnis zu bekunden.
Mit hochgezogenen Brauen blickte Wu Liang durch den Saal. »Xin Zhu?«
»Ich schließe mich immer der breiten Masse an«, erwiderte Zhu. Von hinten hörte er Shen An-lings belustigtes Hüsteln.
Wu Liang zog ein Blatt Papier aus einer Aktentasche, die an seinem Stuhl lehnte. »Es ist der 19. Mai 2008 …« Er schielte auf sein Handgelenk. »9.14 Uhr.« Nachdem er die Anwesenden aufgezählt hatte, fuhr er fort: »Bevor wir beginnen, möchte ich alle daran erinnern, dass um 14.28 Uhr ein dreiminütiges Schweigen für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Wenchuan beginnt.«
Diese Bemerkung war vollkommen überflüssig, doch die Gelegenheit eines laufenden Aufnahmegeräts wollte sich Wu Liang einfach nicht entgehen lassen.
Feng Yi setzte noch eins drauf: »Vielleicht können wir gleich jetzt zehn Sekunden schweigen?«
Zhu blickte sich um. Er bemerkte, dass Sun Bingjun die Augen verdrehte.
Yang Qing-Nian sagte: »Ich unterstütze den Antrag. Abstimmung?«
Natürlich hoben alle die Hand.
Zehn Sekunden später räusperte sich Wu Liang. »Vielen Dank, Feng Yi.« Er griff nach seinen Notizen, um endlich zur Sache zu kommen. »Wir sind hier, um bestimmte Handlungen von Genosse Oberst Xin Zhu vom Sechsten Büro des Guojia Anquan Bu zu erörtern. Insbesondere sind dies zwei Handlungen. Zunächst Xin Zhus Mitteilung vom 15. April an diesen Ausschuss, in der er seine Absicht verkündete, keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse mehr an das Ministerium für Öffentliche Sicherheit weiterzugeben. Zur Begründung gab er in derselben Mitteilung an, dass das Ministerium nicht mehr sicher genug sei, um derart hochsensible Informationen aufzubewahren.«
Yang Qing-Nian schüttelte vor Widerwillen den Kopf.
»Der zweite Punkt«, fuhr Wu Liang fort, »der vielleicht sogar noch problematischer ist, betrifft die Auswirkungen von Xin Zhus unüberlegtem Vorgehen im März gegen eine kleine Abteilung der amerikanischen Central Intelligence Agency. Für diesen verheerenden Fehler wurde Xin Zhu bereits getadelt, und die Tatsache, dass er seine Position im Sechsten Büro noch immer innehat, ist sicher ein Beweis für sein politisches Stehvermögen.«
»Darf ich etwas sagen?«, fragte Zhu.
»Selbstverständlich, wir wollten ja keine Formalitäten.«
Zhu blickte von seinen Händen im Schoß auf zu Wu Liang. »Mein unüberlegtes Vorgehen im März wurde von diesem Ausschuss eingehend dokumentiert. Jetzt sprechen Sie von Auswirkungen. Mir ist nichts bekannt von irgendwelchen nachteiligen Folgen.«
»Ja.« Wu Liang wandte sich seinem Assistenten zu. »Yang Qing-Nian, ich glaube, diese Informationen haben
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