Die Spinne (German Edition)
und wenn das Ministerium für Öffentliche Sicherheit was erfährt, kriegen wir davon bestimmt nichts mit. Wir sitzen in der Scheiße.«
Rauchend blickte Zhu an ihm vorbei durch die Jalousien, hinter denen seine Mitarbeiter an ihren Bergen von Fakten, Halbwahrheiten und Lügen herumpusselten. Nicht einmal auf die für Shen An-ling untypische derbe Ausdrucksweise reagierte er, denn sie bewies lediglich, dass der Jüngere die Situation genau richtig einschätzte: als Katastrophe. Zu der lächerlichen Galgenfrist von zwei Wochen kam, dass man ihnen auf Wu Liangs Betreiben hin tägliche Fortschrittsberichte an alle fünf Ausschussmitglieder aufgehalst hatte. Ja, es war eine Katastrophe, doch für emotionalen Unfug war keine Zeit. Er gab Shen An-ling noch genau fünf Minuten, um die Fassung wiederzugewinnen.
Währenddessen versuchte er, sich die Situation zu vergegenwärtigen und ihre ineinandergreifenden Teile aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Extouristin, die sich sinnloserweise mit Sung Hui und demonstrativ mit einem islamischen Terroristen beschäftigte. Das unverkennbare Leck im Ministerium für Öffentliche Sicherheit. Die Tatsache, dass Wu Liang nur darauf gewartet hatte, ihn zu Fall zu bringen wie einen Papiertiger. Und was war mit Bo Gaoli? Hatte ihn wirklich die Scham über ein unbewiesenes Vergehen übermannt? Zhu kannte ihn zwar nicht näher, doch er war Bo Gaoli bei vielen Anlässen begegnet, und ihn hatte die geschäftsmäßige Nüchternheit beeindruckt, mit der der Mann seine Arbeit im Bereich Terrorismusbekämpfung für das Ministerium für Öffentliche Sicherheit anging. Wenn Zhu jemanden im Ministerium um Hilfe hätte bitten müssen, dann hätte es Bo Gaoli auf die sehr kurze Kandidatenliste geschafft. Und dieser Mann – angesehen in der Verwaltung und seit vierzig Jahren verheiratet – sollte sich wegen einer Sache das Leben genommen haben, für die er nicht verantwortlich war?
Oder hatte er sich doch etwas zuschulden kommen lassen? Hatte er Informationen an die Amerikaner weitergegeben oder ein anderes Verbrechen begangen, dessen Enthüllung er während der Vernehmung befürchtete?
Shen An-ling fand eine Packung Hongtashan und wedelte den beißenden Rauch beiseite, nachdem er sich eine angezündet hatte. »Und wenn wir uns getäuscht haben? Wenn es keinen Maulwurf im Ministerium gibt?«
»Wenn es stattdessen zwei sind oder fünf?« Zhu sah ihn nicht an. »Irgendwie sind die Amerikaner an diese Informationen gekommen. Die Sachen können nicht nur aus abgehörten Gesprächen oder aus einer Quelle mit niedrigem Rang stammen, dazu sind sie zu unterschiedlich. Da waren wir uns doch einig.«
»Wie oft hast du mir eingeschärft, dass das Festhalten an Überzeugungen der Ruin jeder geheimdienstlichen Tätigkeit ist.« Einer von Shen An-lings schönsten Zügen war, dass er Zhu seine Äußerungen einfach wieder zurückwarf.
»Wenn unsere Überzeugung falsch war, lag der Fehler in der Annahme, dass alle Informationen aus einer einzigen Quelle stammen; daher unsere Folgerung, dass die undichte Stelle irgendwo weiter oben in der Verwaltung ist. Natürlich könnten fünf niedrigrangige Quellen theoretisch die gleichen Informationen liefern.«
»Trotzdem fühlt es sich so an, als würden wir uns an etwas klammern, nur weil wir es glauben wollen.« Auch darin lag ein großer Wert des jungen Assistenten: sein ständiges Rütteln an Zhus Annahmen. So blieb die Dialektik in Bewegung, und Zhu konnte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Darin schlug sich die größte Maxime des Vorsitzenden Mao nieder: die Notwendigkeit permanenter Revolution.
»Also gut.« Widerwillig legte Zhu die Hände auf den Schreibtisch. »Was ist, wenn wir uns tatsächlich getäuscht haben? Wenn es keine undichte Stelle im Ministerium gibt? Was folgt daraus?«
»Daraus folgt, dass wir in der Scheiße sitzen.« Shen An-ling verschwand hinter einer Rauchwolke. »Daraus folgt, dass wir ohne handfesten Grund eine ganze staatliche Verwaltung in Verruf gebracht und vielleicht sogar einen Mann in den Selbstmord getrieben haben. Daraus folgt, dass man dich aus der Höhle entfernen und den Rest der Abteilung entweder kastrieren und in das Sechste Büro eingliedern wird oder dass ein Freund von Wu Liang ans Ruder kommt.«
Geduldig hakte Zhu nach. »Wenn es also zutrifft und wir uns getäuscht haben, wie sind wir dann dazu gekommen? Welche fehlerhafte Logik hat uns in diese furchtbare Situation hineinmanövriert?«
Shen
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