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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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die langen Schlangen stehender Autos zu beiden Seiten der Straße bemerkte, fiel ihm ein, dass es 14.28 Uhr war, exakt eine Woche nach dem Erdbeben. Seufzend steuerte er zum Straßenrand, parkte hinter einem Gemüsewagen und lehnte sich zurück.
    Zunächst kämpfte er dagegen an, wie wahrscheinlich die meisten Leute. Sein Kopf war einfach zu voll mit Ängsten und Eigeninteresse. Doch drei Minuten sind eine lange Zeit, und in der letzten Minute waren seine Gedanken schließlich mitten in der Region, in den Bergen, bei den zerstörten Häusern, Schulen, Fabriken, Krankenhäusern, Läden, Straßen und Tunnels und bei den vielen, vielen Tausend Menschen, deren Leben vor einer Woche um 14.28 Uhr einen nicht wiedergutzumachenden Schaden erlitten hatte.
    Das Ende der Stille wurde markiert von Hupen, die straßauf, straßab plärrten. Überall in der Stadt und im ganzen Land heulte es von Autos, Zügen, Schiffen und Alarmsirenen hinauf zum Himmel.
    Er wartete, bis der Lärm nachließ und sich um ihn herum die Fahrzeuge in Bewegung setzten. Dann startete er den Audi und fuhr weiter.
    Sein Ziel lag einen Kilometer nördlich des Komplexes, auf dem die Asienspiele von 1990 stattgefunden hatten, und trug den Namen Ziyu Shanzhuang, Purpurjadevillen: ein fünfundsechzig Hektar großes Gebiet aus grünen Wiesen, Teichen, Wäldern und wild lebenden Tieren für die Superreichen. Eines von dreißig solchen von Mauern umringten Arealen im oberen Teil der Hauptstadt, Welten entfernt von dem ihm vertrauten Peking. Auch die Wachen am Tor schienen seine Fremdheit zu spüren, oder vielleicht lag es an dem scheppernden Geräusch, das sein Wagen neuerdings von sich gab. Jedenfalls konnte sie nicht einmal sein Guoanbu-Ausweis wirklich einschüchtern, und das gab ihm doch zu denken.
    Auf der langen Strecke zu den Villen, die er in gemächlichem Tempo zurücklegte, kurbelte er das Fenster nach unten und genoss die kühle Luft, die nach den perfekt kultivierten Baumreihen zu beiden Seiten duftete. Am hinteren Ende eines Feldes bemerkte er eine Frau mit Kindern, die wild zwischen verschreckten Ziegen und Pfauen herumtollten, und wenn er den Blick nicht über die Baumlinie hob und auf die Pekinger Skyline aus Wolkenkratzern unter dem nahenden Sandsturm richtete, fühlte er sich wie auf dem Land, fern von neugierigen Augen und Ohren. Es war eine magische Illusion.
    Die Wachen am Tor hatten ihn angekündigt, und als er ausstieg, öffnete Hua Yuan bereits die Eingangstür. Sie krampfte die Hände vor dem Bauch zusammen, ihr Haar war zu einem schlampigen Knoten geschlungen. Anscheinend hatte sie sich in aller Eile angezogen, was bei ihm sofort die Vorstellung einer alten Frau auslöste, die in einem klaustrophobischen, verstaubten Haus festsaß und unablässig um ihren Gatten trauerte, der sich das Leben genommen hatte. Doch als sie sich näherte, lächelte sie.
    »Guten Tag, Hua Yuan. Danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Xin Zhu.«
    » Oberst Xin Zhu.« Sie streckte ihm eine zierliche Hand entgegen, die er schüttelte.
    »Sie wissen von mir?«
    »Wir haben uns bei einer Veranstaltung zum Tag der Arbeit kennengelernt. Flüchtig.«
    »Es ehrt mich, dass Sie sich daran erinnern.«
    Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch dann überlegte sie es sich anders und bat ihn hinein.
    Was das Klaustrophobische und den Staub betraf, hatte er sich geirrt. Das makellose Haus, das zweifellos von einem Heer von Putzkräften gereinigt wurde, war offen in seiner Architektur – modern, fast amerikanisch. Sie geleitete ihn durch ein Foyer in ein Wohnzimmer mit wuchtigen, aber bequemen Sofas, einem geschlossenen Fernsehschrank, langen, tiefen Regalen voller Pflanzen und Bücher und einem großen, rechteckigen Fenster, das über die Wiesen blickte. Das Fenster war umrahmt von Efeu, dessen wildes Wuchern die Aussicht behinderte.
    »Ein schönes Heim.« Er setzte sich.
    »Tee?«
    »Gern, vielen Dank.«
    Sie ließ ihn kurz allein, dann kam sie zurück und ließ sich ihm gegenüber in einem Sessel nieder. »Wir haben das Haus nicht sehr viel benutzt. Wir haben es für einen Freund meines Mannes gekauft, einen der ursprünglichen Investoren. Wir waren normalerweise in der Stadt oder auf dem Land – dem richtigen Land. Ich bin hierhergezogen, weil es bequem ist. Das weiß ich inzwischen zu schätzen. Bequemlichkeit.«
    Eine junge Frau unter zwanzig in weißem Kostüm erschien mit einem Tablett und schenkte beiden Chrysanthementee ein. Neben Hua Yuans Tasse bemerkte er einen

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