Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
Vom Netzwerk:
Angst, ein Selbstmörder könnte auf uns landen. Sie haben diese Jahre des Vorsitzenden nicht mehr erlebt, dafür sind Sie zu jung. Damals konnte man allein aus Angst sterben. Die Menschen waren erschreckend zerbrechlich, und man hat nicht gefragt, warum jemand sich von einem Gebäude gestürzt hat. Es war einfach so, und wir mussten eben aufpassen, dass wir ihnen nicht in die Quere kamen.«
    Zhu kaute an der Innenseite des Mundes, um sich eine Antwort zu verkneifen. Wenn er damit angefangen hätte, hätte die Unterhaltung kein Ende mehr genommen. Er neigte den Kopf und erhob sich langsam. »Vielen Dank, Hua Yuan. Ich bin fast alt genug, um mich daran zu erinnern. Doch die Zeiten haben sich geändert, und manchmal führen Fragen auch zu Antworten – oder wenigstens zu besseren Fragen.«
    »Oder ins Grab.« Hua Yuan hielt ihm die schlaffe Hand hin wie eine Französin in Erwartung eines Küsschens auf die Knöchel. Er schüttelte die Hand kurz und ließ sie wieder los. An der Tür deutete sie über die Wiese. »Wir leben in einer Stadt mit mehr als fünfzehn Millionen Einwohnern. Aber sehen Sie, wie leer alles ist!«
    »Ja.«
    »Unser Volk wusste schon immer den Wert einer guten Wand zu schätzen.«
    Er schaute kurz nach dem Rechten im Büro, wo alles reibungslos lief, dann fuhr er durch den wirbelnden Sand des zunehmenden Sturms nach Hause und parkte vor dem Hochhaus. Die meisten Bewohner benutzten die Tiefgarage, aber er hatte sie seit letztem Montag gemieden, in der irrationalen Befürchtung, dass sein Auto unter all diesen Stockwerken begraben werden könnte. Er stellte den Motor ab, doch statt auszusteigen, wählte er eine lange Nummer auf seinem verschlüsselten Telefon. Der Sandsturm wurde immer dichter, und er konnte kaum noch etwas sehen – was bedeutete, dass man ihn von draußen auch nicht richtig erkennen konnte.
    Es war kurz vor sieben, und passenderweise war Peking Washington zwölf Stunden voraus. Sein Mann in der Botschaft machte sich also gerade bereit für den Arbeitsbeginn. Nach drei Klingeltönen hörte er ein trällerndes »Wei«.
    »Schon eine Weile her, Genosse Sam Kuo«, sagte er.
    Schweigen. »Ja, Genosse …« Sam Kuos Ton wurde schwächer, vielleicht war er in Gesellschaft seiner Frau. »Schön, von Ihnen zu hören.«
    »Hoffentlich sind Sie und Ihre Familie wohlauf.«
    »Ja, uns geht es gut. Und Ihnen – Ihnen hoffentlich auch, Genosse.«
    Zhu kam zur Sache. »Sam Kuo, ich brauche ein wenig Unterstützung. Meinen Sie, Sie könnten mir helfen?«
    Später, als ihm Sung Hui von einer schwangeren Cousine mütterlicherseits erzählte, stand er vom Sofa auf und küsste sie, ergriffen von einem Gefühl, das sich bei einem Mann von achtundfünfzig Jahren nur noch selten einstellte, auf den Hals und die Lippen. Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln und führte ihn ins Schlafzimmer. Als sie auf ihm kauerte und die Nägel in seine weiche, weite Brust bohrte, fragte er sich, ob Hua Yuans eigentümliche Traurigkeit dieses Verlangen in ihm geweckt hatte oder die letzte Schweigeminute für die Opfer von Sichuan.
    Weder das eine noch das andere, erkannte er, gekitzelt vom langen Haar seiner Frau. Nein, es lag daran, dass er wieder um sein Leben kämpfte, dass er Agenten losschickte und Schachzüge auf der anderen Seite des Planeten plante. Er war mit der einzigen Sache beschäftigt, für die er je Talent bewiesen hatte, und das erfüllte ihn mit Angst, Wut, Trauer und Liebe – dem ganzen Spektrum menschlicher Erfahrungen.

6
    Am Morgen benachrichtigte er He Qiang, dass Liu Xiuxiu einen Passfotoautomaten besuchen sollte, dann beauftragte er Shen An-ling persönlich, Tickets für zwei getrennte Flüge nach Washington zu kaufen, und zwar auf Namen in Pässen, die in Bodensafes des Büros aufbewahrt wurden. Im weiteren Verlauf des Vormittags besprachen sie, was Zhu von Hua Yuan erfahren und was Shen An-ling über Leticia Jones herausgefunden hatte. Das Treffen zwischen Jones und Abdul Khalik konnte von keiner ihrer Quellen verifiziert werden, doch freundlicherweise hatte Wu Liang seine von einem Informanten niedrigeren Ranges stammenden Erkenntnisse über diese Begegnung in einer kahlen Arbeiterkneipe zur Verfügung gestellt: eine dunkelhäutige Frau, die sich in ausländisch klingendem Mandarin mit einem langhaarigen, Tee trinkenden Mann unterhielt. Später konnte der Informant den Mann nach Fotos des Ministeriums identifizieren.
    Nach der Zusammenkunft in Georgetown hatte Leticia Jones sich zwar ihren

Weitere Kostenlose Bücher