Die Spinne (German Edition)
Zhu stützte die Hände auf die Knie. »Ich will nur helfen, das Rätsel um den Selbstmord Ihres Mannes zu lösen.«
»Eine Geliebte wäre eine Erklärung«, bemerkte sie.
»Nur wenn er die Enthüllung einer Affäre nicht ertragen hätte.« Er zögerte kurz. »Hätte er sie ertragen?«
An diese Frage hatte sie noch nicht gedacht. Sie überlegte und schloss erneut ihre runzligen Lippen um den Strohhalm. Schließlich gab sie ihn mit einem tiefen Atemzug frei. »Xin Zhu, ich habe einmal einen Mann kennengelernt, den mein Gatte drei Tage lang verhört hatte. Dieser Mann war wahnsinnig, verstehen Sie. Wahrscheinlich von dem Verhör. Ich war damals hier, und er war auf irgendeine Weise den Wachen entkommen. Er hat sich auf unser Fenster gestürzt, da drüben.« Sie deutete auf das große, efeuumrankte Viereck. »Immer wieder ist er dagegengerannt, bis seine Nase und Lippen geblutet haben. Als die Wachleute kamen, bin ich rausgegangen. Die Knöchel seiner linken Hand waren völlig zerquetscht, und die Finger hingen einfach schlaff herunter, als er mir zugewinkt hat. An einem seiner nackten Füße fehlten drei Zehen. Als sie ihn weggeschleppt haben, hat er gerufen, dass mein Mann an seinem Zustand schuld sei und dass er jetzt nur noch sterben wolle. Am Abend nach der Arbeit habe ich Bo Gaoli gefragt, was dieser Mann Schreckliches getan hatte. Er hat nur seine Suppe geschlürft und geantwortet: Er hat nichts getan. Es war ein Irrtum. Ein Irrtum?« Sie räusperte sich und starrte durch die klare Fensterscheibe. »Nein, aus Scham hätte er sich nicht umgebracht. Und wegen einer kleinen Geliebten schon zweimal nicht.«
Zhus Hände fühlten sich auf einmal zu groß an. Er presste sie zwischen den Knien zusammen, dann legte er eine auf die Sofalehne. »Verstehe. Dann wissen Sie also nicht, warum er sich umgebracht haben könnte.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. Dann fiel ihr offenbar etwas ein. »Natürlich war da das Geld.«
»Geld?«
»Ungefähr dreihunderttausend Yuan. In einer Schuhschachtel hier im Haus. Ich habe sie gefunden, als ich seine Kleider aussortiert habe.«
Fast fünfzigtausend Dollar in einem Karton. »Und Sie haben keine Ahnung, woher er es hatte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ist er viel gereist?«
»Natürlich.«
»Allein?«
»Manchmal.«
»Hier in der Gegend oder weiter weg? In den Westen vielleicht?«
Ihr Blick löste sich von dem Fenster und richtete sich wieder auf Zhu. »Diese Informationen liegen Ihnen doch sicher vor.«
»Es würde einige Zeit dauern, sie zu bekommen.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Vor allem waren dafür Anfragen bei anderen Büros nötig, die vielleicht nicht mehr bereit waren, einem Ertrinkenden zu helfen.
»Im November ist er zu einer Konferenz nach Chicago geflogen. Im Juni waren wir zusammen in Paris. So viel zum Westen. Natürlich kam er durch die Arbeit auch oft nach Hongkong.«
Für einen Mann in Bo Gaolis Position klang das ganz normal, sogar eher konservativ. »Hat Wu Liang mit Ihnen über die Ereignisse gesprochen?«
Sie lächelte traurig. »Er hat gesagt, dass mein Mann zu den fähigsten Verwaltungskräften Chinas gehörte.«
»Das kann durchaus sein.«
Sie ignorierte seine Bemerkung. »Er hat mir erzählt, dass sie Bo Gaoli am Mittwoch gefunden haben. Er hing in einer Zelle im Ministerium. Ein Kollege wollte nach ihm sehen, und Wu Liang ist kurz darauf dort erschienen – er war der erste Staatsbeamte, der zur Stelle war.«
»Noch vor der Polizei?«
Gereizt schüttelte sie den Kopf. »Die Polizei ist überhaupt nicht gekommen. Für jemanden wie meinen Mann gibt es keinen Selbstmord. In der Zeitung wurde etwas von einem Herzinfarkt berichtet. Inzwischen gerate ich jedes Mal ins Grübeln, wenn ich von jemandem höre, der an einer Herzkrankheit gestorben ist. Sie nicht?«
»Auf jeden Fall.« Zhu seufzte.
»Es heißt ja, dass es die Ehefrauen immer wissen wollen«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Natürlich wollen wir das. Jede von uns liebt ihren Mann oder glaubt zumindest, ihn zu verstehen, und wenn er sich das Leben nimmt, möchten wir den Grund kennen. Wir bekommen Schuldgefühle und denken irgendwann, dass es an uns liegt. Aber in meinem Fall stimmt das nicht, Xin Zhu. Ich war Bo Gaoli nie so wichtig, dass er sich wegen etwas umgebracht hätte, das ich getan oder nicht getan habe. Es macht mich traurig, dass er fort ist, aber ich kann mich an Zeiten erinnern, als wir uns in Shanghai nicht in die Nähe von Hochhäusern wagten, aus
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