Die Spinne (German Edition)
des Tourismus hatte ihn nicht verlassen.
Nach Lage der Dinge hatte er keine Wahl. Xin Zhu stieß keine leeren Drohungen aus, und er tat auch nichts, ohne die nächsten fünf Schritte vorauszudenken. Milo konnte nicht einfach abhauen, und es kam auch nicht infrage, Frau und Kind abzuholen und mit ihnen zu fliehen. Diese Möglichkeiten hatte Xin Zhu sicher eingeplant.
Das Handy in seiner Tasche piepte. Diesmal war es eine Privatnummer. »Ja?«
»Wohin gehen Sie?« Xin Zhu sprach mit leiser Stimme.
»Ich nehme Kontakt zu Leticia auf.«
»Können Sie das nicht von zu Hause?«
»Leider nein.«
»Wie funktioniert es?«
»Ihre Leute können zuschauen und was lernen.«
»Ich möchte es lieber sofort wissen.«
Milo erklärte es ihm.
»Wie neulich«, meinte Xin Zhu.
»Ja.«
»Sie haben eine Stunde Zeit«, sagte er. »Warum die Eile?«
»Ich brauch was zu trinken.«
Xin Zhu schaltete ab.
Auf der Flatbush Avenue hielt er Ausschau nach belebten Restaurants und Bars und sah, dass Mooney’s Pub, das am Ende des Monats abgerissen werden sollte, brechend voll war. Am Mittag war so etwas eine Seltenheit, doch vermutlich waren einfach alle Gäste gleichzeitig von einer Welle der Nostalgie gepackt worden. Er zwängte sich hinein und nickte dem einen oder anderen bekannten Gesicht aus dem Viertel zu. An der Bar winkte er und rief nach einem Wodka Martini.
Auf den ersten Blick war das Mooney’s nur eine Spelunke, doch inzwischen war es auch eine Institution, die der Luxussanierung zum Opfer gefallen war. Das Publikum setzte sich aus überwiegend weißen Stammgästen und Szenegestalten zusammen, und während er seinen Drink vorsichtig von der Bar wegtrug, tastete er mit der rechten Hand gleichzeitig unauffällig über Jacken. Als er zur Wand gelangte, hatte er das iPhone von jemandem in der Hand und ließ es in seine Tasche gleiten.
Das Glas an den Lippen, beobachtete er das Gedränge am Eingang und lauschte mit halbem Ohr auf Johnny Cash und June Carter mit ihrem Duett »Jackson«. Der Schwarze tauchte nicht mehr auf, doch eine weiße Frau über dreißig schlenderte herein. Sie war ohne Begleitung und passte irgendwie nicht ganz ins Bild. Vielleicht war sie es, vielleicht nicht. Er konnte es nicht wissen.
Im Widerspruch zu seiner Ausbildung dachte er viel zu lange über Schuldzuweisungen nach, bis ihm endlich dämmerte, dass er sich das Ganze selbst zuzuschreiben hatte. Er hatte Direktor Stephen Rollins angerufen. Chaudhury hatte ihn sogar noch aufgefordert, die Finger davon zu lassen. Er hatte ihn gewarnt, sich lieber nicht dem Radarschirm dieses Mannes zu nähern. Doch jetzt war es passiert.
Hätte er die Sache auf sich beruhen lassen können? Hätte er einfach akzeptieren können, dass Chaudhury von der CIA war? Nein, und Xin Zhu hatte das wahrscheinlich gewusst. Milo malte sich die Abfolge der Ereignisse aus. Er konfrontiert Chaudhury damit, dass er nicht vom Heimatschutz ist, und die nächste Schicht der Tarnung kommt zum Vorschein. Er arbeitet für die Company. Diese Information leitet Chaudhury an Xin Zhu weiter, der ihn anweist: Wenn er weiterbohrt, geben Sie ihm diese Nummer. Zu Xin Zhus Fähigkeiten gehörte es, dass er wusste, wann er sich strecken und dehnen musste, um auf unerwartete Wendungen wie Milos Neugier zu reagieren. Xin Zhu war der ultimative Pragmatiker. Er arrangierte es so, dass er nach Milos erstem Anruf einen ganzen Tag Zeit hatte, um seine Verfolger einzuteilen, und bei seinem Rückruf saß Milo bereits in der Falle.
Er konnte nicht sagen, ob ihn Xin Zhu in Ruhe gelassen hätte, wenn er nicht angerufen hätte, und genau dieser Punkt nährte seine Selbstzweifel. Deswegen war es bei Touristen verpönt, über Schuldfragen nachzugrübeln.
Als sein Glas halb leer war, stieß er sich von der Wand ab und bahnte sich mühsam einen Weg nach hinten zu den Toiletten. Er schaute sich nicht um und zögerte auch nicht, denn Zögern war wie ein lautes Alarmzeichen auf dem Rücken. Er drängte sich vor zu dem kleinen, schmutzigen Klo, aus dem exakt in diesem Moment ein Betrunkener torkelte. Drinnen lehnte er sich gegen die Tür und zückte das iPhone, um die Nummer zu wählen, die er seit dem Bestellen des Martini im Kopf ständig wiederholt hatte.
Nach drei Klingeltönen meldete sich Janet Simmons. »Ja?«
»Milo hier.«
»Sind Sie in einer Bar?«
»Sie müssen meine Familie verhaften.«
»Was?«
»Heute Abend noch, wenn möglich. Beide sind zu Hause, und ich will, dass Sie sie in Gewahrsam
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