Die Spinne (German Edition)
und filmte die Innenräume einer großen Bibliothek, die Milo bestens kannte: die Avery Architectural and Fine Arts Library der Columbia University, deren Leiterin Tina war. Die Person mit der Kamera ging vorbei am Ausgabeschalter und an von Studenten besetzten Computerarbeitsplätzen in einen kurzen Bürokorridor bis zur hintersten Tür auf der linken Seite. Die Hand des Kameramanns erschien und klopfte neben dem Schild mit dem Namen der Bibliotheksleiterin. Kein Geräusch, nur eine Sekunde lang Stille, dann öffnete die Hand die Tür, und drinnen kam Tina hinter ihrem Schreibtisch zum Vorschein, die mit der tief auf der Nase sitzenden Lesebrille über einen Stapel Formulare gebeugt dasaß und fragend zu dem Kameramann aufblickte.
Das Bild auf der rechten Seite war statisch. Offenbar hing die Kamera in der Ecke eines Zimmers. Auch hier gab es Bücher. Kinderbücher. Und Spielsachen. Im Kreis um eine Frau über vierzig, die in die Hände klatschte und sang, saßen fünfzehn Kinder und sangen eifrig mit. Erstaunlicherweise bemerkte er zuerst Sarah Lawton mit ihrem pedantischen blonden Haarschnitt und in Ballerinakluft, bevor er zwei Kinder weiter Stephanie sah. Sie wirkte gelangweilt und gereizt.
Xin Zhu meldete sich wieder: »Verstehen Sie jetzt?«
Milo fühlte nichts. Seine Hände und Beine, sogar sein Kopf waren ganz taub.
»Ich greife nicht gern zu solchen Methoden, aber behalten Sie es im Gedächtnis, wenn Sie Ihre Arbeit verrichten.«
»So haben Sie es auch mit Alan gemacht«, flüsterte Milo.
»Alan dachte, er kommt davon, wenn er seine Frau verlässt. Wenn er sie mit seinem Verhalten in den Wahnsinn treibt und sich dann aus dem Staub macht. Aber da hat er sich getäuscht.«
Milo fiel ein, dass Penelope nicht ans Telefon gegangen war. »Sie haben Penelope.«
»Nein«, erwiderte Xin Zhu sofort. »Alan Drummond wird nicht wieder auftauchen, auch wenn ihr etwas zustößt. Aber ich habe inzwischen gelernt, dass zu viel Großzügigkeit schädlich ist, und ich werde diesen Fehler bestimmt nicht noch einmal begehen. Bedenken Sie, dass Ihre Familie für uns jederzeit in Reichweite ist. Bitte zwingen Sie uns nicht zu radikalen Schritten.«
Milo erinnerte sich an eine weitere Bemerkung Chaudhurys: Meistens nenne ich ihn bei seinem richtigen Namen: Gott.
Nachdem er sich in der Toilette übergeben und sich den Mund ausgespült hatte, fühlte er sich, als wäre alles aus seinem Körper herausgeströmt: seine Organe, seine Panik, seine Seele und sogar seine Liebe. Doch seine Emotionen waren nicht weg, sie waren nur aufgeräumt und in ein kleines Kästchen in einem fernen Winkel seiner Psyche gesperrt worden, damit er sich zu einem geeigneteren Zeitpunkt mit ihnen befassen konnte. Das Verblüffende war, dass er das nach Monaten ohne Übung so schnell schaffte. Auch das bringen sie uns bei , hätte er am liebsten zu Tina gesagt, doch er hatte nicht vor, ihr irgendetwas zu erzählen. Er würde den Eid brechen, mit dem er ihr Aufrichtigkeit gelobt hatte, und auch wenn er dafür gute Gründe hatte, war ihm bewusst, dass er damit wieder auf die schiefe Bahn vollkommener Verlogenheit geriet.
Obwohl er nichts davon wahrnahm, zweifelte er keine Sekunde daran, dass er beobachtet oder belauscht wurde, als er Leticias spezielle Nummer wählte und nach den Worten »Hallo, hier ist Milo« wieder auflegte. Inzwischen war es 11.46 Uhr. Er schlüpfte in ein leichtes Jackett und verließ das Apartment.
Unterwegs auf der Seventh Avenue Richtung Flatbush Avenue versuchte er seinen Verfolger zu entdecken, aber um diese Tageszeit war viel los, die Geschäfte waren offen und voller Menschen, und er merkte, dass bei jedem asiatischen Gesicht seine Antennen ausschlugen. Doch es gab keinen Grund für die Annahme, dass Xin Zhu für diese Aktion Chinesen einsetzte; er konnte jeden x-Beliebigen anheuern. Jemanden wie Chaudhury oder den Schwarzen in der übermäßig schweren Jacke, der auf der anderen Straßenseite in Milos Richtung ging. Jeder konnte eine Kamera im Hemd oder in der Bluse tragen.
Hatte er Angst? Sicher, aber auch die war weggesperrt. War er ohne Hoffnung? Nein, doch er konnte nicht erkennen, ob es echte Hoffnung war oder die falsche, die Touristen in sich nähren, um am Drücker bleiben zu können. Er musste Puzzleteilchen zusammentragen und sie bei Licht hin und her wenden, um genau zu begreifen, wo er stand und welche Optionen er hatte. Seine Tätigkeit als Geheimagent lag schon Monate zurück, doch die schlichte Klarheit
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