Die Spinne (German Edition)
er es an der Tür, aber sie war verschlossen. Milo zog sich zurück. Selbst wenn Raymond etwas gehört hatte, konnte er Milo sicher nicht sagen, wer Tina und Stephanie abgeholt hatte.
Er schob sich zwei Nicorette-Tabletten in den Mund und stapfte heftig kauend zurück in sein Apartment. Er machte einen Bogen um Jewgenis Leiche und steuerte auf die Küche zu. Es gab Wodka, aber er beschränkte sich auf ein kleines Glas, um sich ein wenig abzustumpfen. Als er den Drink abstellte, waren seine Augen wieder nass. Er wischte sie ab und versuchte, sich an seine Ausbildung zu erinnern. Aber wenn er es erst lang versuchen musste, hatte es sowieso keinen Zweck.
Jewgeni war gekommen, um sie abzuholen. So viel war klar. Hatte er sie aufgesammelt und war dann von Zhus Leuten attackiert worden? Oder war er zu spät eingetroffen, nachdem Simmons sie weggeschafft hatte, und war dann über Zhus Agenten gestolpert, die gerade die Wohnung durchkämmten und sich fragten, was passiert war?
Er wählte Tinas Nummer. Eine Melodie durchschnitt die Stille, und kurz darauf fand er ihr Nokia auf der Sofalehne. Dann, ohne zu wissen, warum, rief er Penelope Drummond an. Ihr Telefon hatte entweder kein Netz, wie ihm eine anonyme Stimme mitteilte, oder es war abgestellt.
Plötzlich hörte er das Klingeln eines anderen Telefons, und zuerst dachte er, dass es das von Jewgeni war. Er machte zwei Schritte auf die Leiche zu, ehe er merkte, dass das Geräusch aus seiner eigenen Tasche kam. Er zog das iPhone heraus und meldete sich ohne einen Blick auf das Display. »Wo sind sie?«
Nach einer Pause antwortete Xin Zhus Stimme: »Aus dem Weg.«
»Sie haben sie also?«
»Im Moment sind sie nicht bei mir, falls Sie das meinen.«
Milo öffnete den Mund, doch es gelang ihm gerade noch, die Worte zu verschlucken, die sich bereits in seiner Kehle bildeten: Jetzt bist du ein toter Mann.
Xin Zhu schien ihn auch so verstanden zu haben. »Bitte sparen Sie sich Entrüstung, Drohungen und alles andere, was Sie später bedauern würden. Sie haben sich diese Entwicklung selbst zuzuschreiben, Mr. Weaver.«
Schwindel setzte ein, und die Übelkeit, die er bisher unterdrückt hatte, durchflutete seinen ganzen Körper. »Das war nicht nötig.«
»Doch, das war es, und Sie wissen es. Mr. Drummond hat es bewiesen. Inzwischen haben Sie sicher erkannt, dass Sie meine Anweisungen ohne Zögern zu befolgen haben. Ist das klar?«
»Ja.«
»Gut«, erwiderte Xin Zhu. »Dann entsorgen Sie jetzt das Telefon und machen sich an die Arbeit.«
12
Kurz vor acht Uhr morgens traf er am JFK -Terminal drei ein, dessen Dach auf unverkennbare Weise einer fliegenden Untertasse glich. Er war ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte Papiere, Brieftasche und Telefon zurückgelassen und alle Etiketten aus seinem marineblauen Anzug herausgetrennt. Alles, was er dabeihatte, war ein gefaltetes Bündel Geldscheine und zwei Blisterpackungen Nicorette. Als er aus dem Taxi stieg, musste er erst einmal stehen bleiben, um nicht von Gepäckträgern, uniformierten Polizisten oder anderen Reisenden über den Haufen gerannt zu werden. Er brauchte einen Moment, bis er sich orientiert hatte, weil ihm die einst so vertrauten Flughäfen inzwischen verhasst waren.
Leticia Jones näherte sich bereits mit einem schwülen Lächeln. »Hi, Baby.« Sie küsste ihn auf beide Wangen. Sie sah flott aus in ihrem gestreiften Business-Rock, als sie ihn am Ellbogen durch die erste Sicherheitskontrolle in die weitläufige, stark belebte Halle führte.
»Wohin?« Alles ging so schnell, dass er kaum Luft bekam.
Sie stellte sich mit ihm vor eine Abfahrtstafel, auf der Städtenamen aus aller Welt blitzten. »Such’s dir aus.«
»Was?«
»Wie wär’s mit Las Vegas?« Sie deutete auf einen Flug um halb zehn.
Er starrte sie an. Er wusste, dass er furchtbar aussah – vor allem seine Augen –, doch das war ihm egal.
»Also lieber Boston?«, schlug sie vor. »Oder Cancún?«
»Was soll der Scheiß?«
»Nein«, meinte sie nach kurzer Überlegung. »Ich glaube, wir probieren es mit Mexiko-Stadt.«
Sie standen in der Schlange vor dem Delta-Schalter. Hinter ihnen plauderten Urlauber fröhlich über Terroristen, während vor ihnen drei mexikanische Geschäftsleute hin und wieder Worte auf Spanisch wechselten. Milo und Leticia hingegen schwiegen. Milo beobachtete Gesichter. Er brauchte nicht lange, um Chaudhury zu erspähen, der sich neben einer um ihr Gepäck gescharten Familie an einer Zeitung festhielt. Möglicherweise gab
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