Die Spinne (German Edition)
klick gemacht. Hören Sie, wenn Sie noch auf Jobsuche sind, wir hätten da ein attraktives Angebot für Sie. Sie müssen vielleicht ein bisschen mehr reisen, als Sie ursprünglich wollten, aber wenn Sie sich das mal ansehen …«
»Billy«, unterbrach ihn Milo. »Könnte ich Sie vielleicht morgen zurückrufen? Im Moment bin ich gerade beschäftigt.«
»Ja, natürlich.« Morales klang irgendwie verwirrt. »Hören Sie, wenn Sie von jemand anders Angebote kriegen, können Sie mir das ganz offen sagen. Wenn nötig, sind wir auch zu Verhandlungen bereit.«
»Das ist es nicht, Billy. Ehrlich. Also bis morgen?«
»Roger«, antwortete Morales, und Milo schaltete ab.
Um Viertel vor sieben kam Milo an der Penn Station an. Er nahm die U-Bahn nach Park Slope und schaukelte monoton zwischen den Passagieren aus aller Herren Länder hin und her. Er musste an Gabis Freude über das internationale Erscheinungsbild der Stadt denken. Ja, sie war zu Recht begeistert.
Am Garfield Place hielt er verstohlen Ausschau nach Beobachtern und stieg die Treppe hinauf, als er keine entdeckte. Aus Raymonds Wohnung hörte er das leise Gemurmel eines Fernsehers, doch hinter seiner Tür war alles still. Kein Fernseher, kein Reden, keine Schritte. Die Tür war unverschlossen. Er zog sie hinter sich zu. »Mädels?« Keine Antwort. Es war zwanzig vor acht.
Er holte tief Luft und lehnte sich von innen gegen die Tür, als er den Riegel vorschob. Er hatte es so gewollt, so geplant, aber er fühlte keine Befriedigung. Auch wenn sie den Eindringling kannten und wussten, dass Milo ihre Entführung arrangiert hatte, hatten sie bestimmt Angst gehabt. Das war normal, es war menschlich .
Jetzt konnte er an den nächsten Schritt denken. Er konnte Collingwood und Irwin die Wahrheit sagen. Er konnte – und das war wohl die einzig gangbare Option – ein doppeltes Spiel gegen Zhu spielen.
Diese rauschhafte Anwandlung von Optimismus war noch nicht völlig verklungen, als er plötzlich etwas roch. Vermischt mit dem Aroma der Sojasoße und seines Kung-Pao-Huhns ein kaum merklicher Hauch von Scheiße und Schwefel. Er löste sich von der Eingangstür und schlich langsam vorwärts. Als er den Gang hinter sich ließ, öffnete sich der Blick aufs Wohnzimmer. Alles war an seinem Platz – Fernseher, Tische, Sessel –, doch mitten auf dem grauen Teppich lag mit zur Seite gedrehtem Kopf und einem Ausdruck des Staunens auf dem Gesicht sein Vater in einer Blutlache.
Schlagartig schnürte es Milo die Kehle zusammen, und er konnte nicht mehr schlucken. Er musste die Luft gewaltsam in die Lunge pressen und sich an der Wand festhalten. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Der Alte lag noch immer da.
Bevor er sich dem Toten näherte, huschte Milo lautlos zu den Schlafzimmern und zum Bad und spähte hinter Türen und unter Betten, um sich davon zu überzeugen, dass niemand hier war. Erst dann kehrte er zurück ins Wohnzimmer und berührte vorsichtig Jewgenis Hals. Ohne auf den Gestank der postmortalen Darmentleerung zu achten, ließ er die Hand über Jewgenis Rücken gleiten, um die Körpertemperatur zu prüfen: Es gab noch eine Spur von Wärme. Der Tourist in ihm dachte: Das ist erst vor wenigen Minuten passiert. Der Mensch in ihm befand sich wieder am Anfang seines Moskauer Aufenthalts in einem klaustrophobisch engen Wohnzimmer und hörte, wie ein KGB -Offizier über einen Witz lachte, den sein halbwüchsiger Sohn gerade in seinem unbeholfenen Russisch geradebrecht hatte.
Es gelang ihm nicht, sich abzuschotten; das Entsetzen drohte ihn zu überwältigen. Mühsam rappelte er sich hoch und lehnte sich an einen Türrahmen, wie um sich durch das Haus stützen zu lassen. Mit zitternden Fingern wischte er sich die Tränen weg. Er wollte sich nicht hinsetzen, aus Angst, nie wieder aufstehen zu können. Er zog sein Handy heraus, dessen Display er nur verschwommen erkennen konnte, dann steckte er es wieder weg. Es gab niemanden, den er anrufen konnte. Wenn Janet Simmons seine Frau und Tochter abgeholt hatte, würde sie sich melden, sobald sie in Sicherheit waren.
War Warten tatsächlich die einzige Möglichkeit?
Nein. Er konnte Fakten zusammentragen. Das machte man in solchen Situationen – man holte Informationen bei Zeugen ein.
Vorsichtig trat er hinaus ins Treppenhaus und ging zu Raymonds Tür. Der Fernseher lief noch immer. Er klopfte dreimal, dann erneut, aber lauter. Er lauschte und fragte sich, ob sein Nachbar wieder einmal im Alkoholkoma lag. Dann probierte
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