Die Spionin im Kurbad
hochzuklettern.
Wollte sie schwimmen gehen?
Jetzt raffte sie die Röcke und versuchte ein Bein über das Geländer zu bringen. Das feuchte Tüchlein flatterte von der Brücke und wurde von der Strömung fortgespült.
Rennende Schritte kamen von der anderen Seite.
Vincent.
Allein.
» Lassen Sie das bleiben, Madame. Lassen Sie!«
Sie wandte sich ihm zu. Er hatte sie erreicht, fasste sie fest um die Taille und hob sie von dem Geländer.
» Lassen Sie mich los!«
» Nein, das werde ich nicht. Teuerste, das ist keine Lösung!«
Sie zappelte ein wenig, aber er hielt sie fest an sich gedrückt. Ihr Schluchzen wurde lauter.
» Ist ja gut. Ist ja gut, Liebes. Nichts ist es wert, sein Leben wegzuwerfen. Glauben Sie mir. Es gibt immer einen Ausweg. Ganz bestimmt.«
Wie sanft er sprechen konnte, der steife Vincent.
Sie lehnte an seiner Schulter, zitternd, schniefend. Er murmelte weiter auf sie ein. Allmählich beruhigte sie sich ein bisschen. Dann rückte sie von ihm ab. Er ließ sie los, doch er hielt weiter ihre Hände fest.
» Was ist passiert, meine Liebe? Wer hat Sie in solche Verzweiflung gestürzt?«
» Ich. Ich mich selbst.« Ganz gebrochen klang ihre Stimme. » Die Schande, ach, diese Schande!«
» Was ist schon Schande, Teuerste? Doch nur, was die anderen denken könnten.«
Sie schüttelte vehement den Kopf.
» Eine schöne junge Frau, die von Schande spricht, hat sich wahrscheinlich nur dumm benommen, nicht wahr?«
Jetzt nickte sie.
» Ein ungetreuer Liebhaber?«
Wieder nickte sie.
» Ein ungewolltes Kind?«
Sie stöhnte auf.
» Sie wollten nicht nur ein Leben beenden. Bedenken Sie das.«
Jetzt klammerte sie sich wieder an ihn.
» Es gibt keinen Ausweg.«
» Es gibt immer einen. Erzählen Sie, Fräulein.«
» Nicht Fräulein. Bin Witwe. Und er war meine letzte Hoffnung!«
Wieder weinte sie, und Vincent wiegte sie sanft in seinen Armen.
Hatte ich mich so in ihm getäuscht? War es so leicht, seine Steifheit zu durchbrechen?
» Wer war Ihre letzte Hoffnung, Madame?«
» Luigi! Er wollte mich heiraten«, seufzte sie an seiner Schulter.
Und schwupps – da war sie wieder, die ausdruckslose Miene. Nein, nicht ausdruckslos, sondern kalt und gefährlich. Doch sie verschwand in dem Moment, als sie ihren Kopf hob.
» Ein Bräutigam, der sich aus dem Staub gemacht hat und Sie mit einem Kind sitzen ließ?«
Sie schüttelte den Kopf.
» Das Kind ist von einem anderen«, flüsterte sie. » Er ist verheiratet, von hohem Stand. Er weiß es nicht. Und unsere Familien würden … oh Gott, diese Schande!«
» Es ist keine Schande zu lieben. Es ist eine Schande, zu fliehen, Madame. Sie sind nicht unvermögend?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
» Ihr verstorbener Gatte …«
» Metz.«
» Ja, Metz. Ich war auch dort. Es starben viele tapfere Männer und ließen ihre Frauen trostlos zurück.«
» Ja, so trostlos.«
» Und wer Trost sucht, wird leicht ein Opfer seiner Gefühle.«
» Sie verstehen das?«
» Natürlich.«
» Sie haben auch jemanden verloren?«
» Wer hat wohl keine Verluste erlitten?«
Er streichelte ihre Arme, und sie schniefte noch einmal. Vincent reichte ihr ein Tuch, mit dem sie ihr Gesicht abtupfte.
» Haben Sie schon einmal daran gedacht, ins Ausland zu gehen, um sich von Ihrer Trauer zu erholen?«
» Nein. Nein, warum sollte ich?«
» Weil Sie die Mittel dazu haben. Sie könnten dort ein Waisenkind aufnehmen – Ihre Nächstenliebe wird Sie veranlassen, sich des mutterlosen Kindes – sagen wir, einer entfernten Cousine Ihres verstorbenen Gatten – anzunehmen.«
Ihr Gesicht kam aus dem Tuch hervor, staunend.
» Beispielsweise«, sagte Vincent und lächelte sie aufmunternd an.
» Ja, beispielsweise.«
» Denken Sie darüber nach.«
Sie drehte sich noch einmal dem Fluss zu. Dann seufzte sie tief auf.
» Das da wäre leichter gewesen. Aber Sie haben recht, Herr Major.«
» Glauben Sie mir, sterben ist nicht leicht.«
Er ließ sie los, öffnete zwei Knöpfe seiner Uniformjacke und zog aus seiner Brust – ähm, ja, aus seiner Brust – ein Papier hervor und hielt es der Frau unter die Nase. Das Laternenlicht mochte für menschliche Augen gerade noch ausreichend sein, dass sie erkannte, was sich darauf befand. Ich hätte es auch gerne gesehen, aber dazu hätte ich auf das Geländer springen müssen, und man hätte mich bemerkt.
» Ist das der flüchtige Luigi?«
» Ja. Gott, woher kennen Sie ihn?«
» Luigi Ciabattino. Ein notorischer Heiratsschwindler,
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