Die Sprache der Macht
Boot namens „Wertegemeinschaft“.
Machttechnisch hat die Berufung auf Werte noch einen weiteren Vorteil: Wer es tut, der gehört zu den Guten, zu den moralischen, verantwortungsbewussten Menschen. Wir sind dadurch nicht nur in den Augen der andern aufgewertet, sondern vor allem auch aus eigener Sicht. Während alle andern nur auf ihren eigenen Vorteil schielen, blicken wir über den Tellerrand und bugsieren die Dinge in die richtige Richtung.
Das wiederum legitimiert uns, auch in anderen Angelegenheiten mitzureden und unseren Willen einzubringen. Sprachlich geschieht dies natürlich nicht, indem wir uns auf unsere moralische Autorität berufen. Das wäre das Ende dieser komfortablen Sonderstellung. Vielmehr funkioniert es andersherum. Weil wir uns bereits als jemand gezeigt haben, der „zu den Guten“ gehört, dürfen wir ganz unbefangen zu jeder beliebigen Sache Stellung beziehen. Insofern gehört diese Art der Imagepflege auch in den Bereich der „Dominanz“ (→ S. 35, „Dominanz und Imponiergehabe“). Dabei sollte man noch einmal daran erinnern, dass gerade erklärte Moralapostel dazu neigen, über die Stränge zu schlagen.
Achtung: Wer sich für moralisch gut hält, spendet weniger
Die Psychologin Sonya Sachdeva von der Northwestern University in Chicago ließ in einem Experiment ihre Versuchspersonen einen Text über sich verfassen. Anschließend wurden sie gebeten, für eine soziale Einrichtung ihrer Wahl zu spenden. Diejenigen, die sich moralisch gute Eigenschaften zugeschrieben hatten, spendeten nur ein Fünftel im Vergleich zu denen, die sich negativ charakterisiert hatten.
Werte konkretisieren
Wir haben es erwähnt: Die Werte selbst sagen noch nicht viel aus. Sie müssen konkretisiert werden. Das heißt, jemand muss festlegen, welches Verhalten wertkonform ist und welches nicht. Dies geschieht natürlich nicht systematisch und im Vorhinein, sondern immer aus gegebenem Anlass.
„Coffee to go“
Die Angestellten der Werbeagentur Brainto konsumieren sehr viel Kaffee. Vorzugsweise aus Pappbechern, die dann in großer Zahl im Müll landen. Creativdirektor Axel Oschner spricht das Problem auf der nächsten Teamsitzung an: „Euch liegt doch so viel an Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Macht ihr euch eigentlich klar, was ihr hier tagtäglich für Müllberge produziert? Und alles nur, weil ihr zu faul seid, euer Geschirr mitzubringen und abzuspülen.“
Es liegt auf der Hand, dass der Sprecher herausstreichen muss, dass hier ein Wert verletzt wurde. Den muss er noch mal in Erinnerung rufen („Nachhaltigkeit und Umweltschutz“). Sonst könnte man seine Kritik auch so verstehen, als ginge es ihm um die Kosten oder um die Mühe für das Reinigungspersonal. Weiterhin ist es entscheidend, dass der betreffende Wert für die Angesprochenen überhaupt relevant ist. Sonst könnten sie seine Kritik als „Gekeife unseres Chefökologen“ abtun und sich nicht weiter daran stoßen.
Völlig anders jedoch, wenn es sich um einen „Leitwert“ handelt, auf den sich die betreffende Gruppe verpflichtet hat (oder darauf verpflichtet wurde). Dann bekommt der Einwand eine ungeheure Wucht: Ihr wollt die Umwelt retten – und erstickt an eurem eigenen Müll. Das Bemerkenswerte ist nun, dass mit dem Hinweis auf einen missachteten „Leitwert“ auch Kleinigkeiten plötzlich wichtig werden können: ein einziger Pappbecher zum Beispiel. Nach dem Prinzip „Wehret den Anfängen“ kann dieses Behältnis als Sinnbild für die gedankenlose Wegwerfgesellschaft fungieren. Es geht nämlich nicht um den Pappbecher, sondern um eine bestimmte Haltung. Worin diese Haltung besteht, das legen die fest, die immer wieder mal die Werte konkretisieren. Wer das ist, dazu gleich mehr.
Bürotür bitte offenstehen lassen
„Ich frage mich, warum Frau Miklosch ihre Tür immer zumacht. Hat sie etwas zu verbergen?“, lässt sich ihr Vorgesetzter, Herr Kambach, vernehmen, dem „Transparenz“ sehr wichtig ist. „Transparenz ist der Anfang von Vertrauen“, lautet sein Wahlspruch. Und so stellt er die ahnungslose Frau Miklosch zur Rede: „In unserem Unternehmen legen wir viel Wert auf gegenseitiges Vertrauen und Transparenz. Haben Sie ein Problem damit?“
Eine solche Äußerung richtet sich nicht nur an diejenige, die vermeintlich gegen den Wert verstoßen hat, sondern auch an alle anderen Mitarbeiter. Die Botschaft lautet: Jeder, der seine Bürotür nicht offenhält, missachtet das Gebot der Transparenz. Und das wird nicht
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