Die Sprache der Macht
proklamierten Werte dienen dazu, die betreffende Gruppe zu kritisieren, und zwar besonders hart zu kritisieren. Denn der Vorwurf lautet: Sie ignorieren ihre eigenen Werte – und damit auch alle anderen.
Die anderen ins Unrecht setzen
Es ist bereits angeklungen: Neben der Aufwertung der eigenen Position haben Werte auch die Funktion, andere abzuqualifizieren. Beides ist innig ineinander verwoben. Dabei geht es nicht nur darum, die eigenen Leute mit dem Hinweis auf die Werte auf Linie zu bringen – Werte dienen auch dazu, die Gewissheit zu verbreiten: „Wir“ sind besser als „die da“. Darum lohnt es sich ja auch, den eigenen Werten zu folgen.
Die anderen haben entweder gar keine Werte, die „falschen Werte“ oder sie verstehen ihre Werte nicht richtig (= Konkretisierung von außen). Es gibt noch eine vierte Unterstellung, die ebenso wenig schmeichelhaft ist: Sie „übertreiben“ es mit den Werten, sie peinigen die Leute mit kleinlichen Vorschriften, sie haben sich in einen „Tugendterror“ verrannt.
Diese Abwertung kann zu offener Feindschaft führen. Wer unsere Werte nicht respektiert, wer sie mit Füßen tritt, der ist ja nicht bloß anders, nachlässig oder im Irrtum. Vielmehr kann man ihn als „böse“ abstempeln. Und mit den „Bösen“ ist keine Verständigung möglich. Sie werden zu Sündenböcken erklärt, die für alle möglichen Missstände verantwortlich sind. Das Leben könnte so einfach sein, wenn diese Leute nicht ihr Unwesen trieben. Sie dienen als Projektionsfläche, um die Gruppe zusammenzuhalten und die eigene Führungsrolle zu behaupten.
Allerdings sind auch weit mildere Formen der Abwertung in Gebrauch. Die bieten sich an, wenn man mit der Gegenseite hin und wieder auch kooperieren möchte (oder überhaupt ihre Feindschaftfürchtet; immerhin ist es riskant, jemanden zum Feind zu erklären; er könnte sich herausgefordert sehen, einem tatsächlich Schaden zuzufügen). Eine dieser milden Abwertungen besteht darin, sich auf denselben Wert zu beziehen, ihn aber „neu“ und „besser“ zu definieren. Solche Neudefinitionen finden sich beispielsweise in der politischen Auseinandersetzung.
„Sozial ist, was Arbeit schafft“
Die Sozialdemokraten besetzen traditionell den Leitwert „soziale Gerechtigkeit“. Bei der Bundestagswahl 2005 trat ihnen die CDU mit dem Slogan entgegen: „Sozial ist, was Arbeit schafft.“
Die ewige Wiederkehr der Werte
Ein weiterer Aspekt darf nicht fehlen: Es gibt kaum eine überzeugendere Legitimation für einen (vermeintlichen) Neuanfang als Werte. Wann immer der Eindruck sich verfestigt hat, dass es nicht gut läuft, wann immer gewaltige Probleme zu meistern sind, bietet sich der Hinweis an, dass man nun zu den Werten zurückkehren müsse. Die Missstände werden dadurch erklärt, dass Werte vernachlässigt worden seien oder dass die „falschen Werte“ gegolten hätten.
„Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“
Im Juni 2010 beschloss die Bundesregierung ein rigides Sparpaket. Dazu erklärte Vizekanzler Guido Westerwelle: „Wir haben in den letzten Jahren auch über unsere Verhältnisse gelebt.“
Dieses Verfahren ist so weit verbreitet, dass man von einer „ewigen Wiederkehr der Werte“ sprechen kann. Finanzkrise? Börsencrash? Drohende Klimakatastrophe? Die unvermeidliche Erklärung lautet, dass da irgendetwas mit unseren Werten durcheinandergeraten sei. Die „wahren Werte“ müssten wieder gelten. Anstand, Gemeinsinn, Gerechtigkeit, Respekt vor den anderen, vor der Natur und den Generationen, die nach uns kommen. Weil diese Werte nicht (mehr) galten, stecken wir jetzt in Schwierigkeiten.
Ob damit die Ursachen zutreffend beschrieben sind, wollen wir hier offenlassen. Entscheidend ist, dass in solchen Situationen von diesem Argumentationsmuster immer wieder Gebrauch gemacht wird. Und zwar mit Erfolg. Diese Erklärung scheint uns plausibel. Wir unterstellen, dass die „richtigen Werte“ auch zum „richtigen Handeln“ führen.
Dabei sollte eines nicht übersehen werden: Mit dem Hinweis auf die „fehlenden Werte“ wird uns eine Erklärung angeboten, die eine Lösung verspricht. Die Rückkehr zu den Werten vermag eine Perspektive zu eröffnen. Sie ermutigt uns, überhaupt einen Neuanfang zu wagen und aktiv zu werden. Würde uns hingegen jemand erklären, alles sei kompliziert und was uns in Zukunft erwarte, könne ohnehin niemand sagen, so würde uns das ratlos machen.
Gegenstrategien
Ist von Werten die Rede, wird es
Weitere Kostenlose Bücher