Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
ruft. Geworfen ist der Würfel – und hoffentlich nur der.
«Ich habe tatsächlich … etwas läuten hören. Wie alles letztlich genau zusammenhängt, weiß ich auch nicht. Nur so viel ist klar: Die Jungs und Mädels von Life-Aid sind bekanntlich pazifistische Altruisten oder altruistische Pazifisten oder wie immer du das nennen willst. Leben retten und so weiter. Allerdings nicht alle, es gibt auch ein paar radikalere, wie meinen Kumpel Jochen. Jochen gehört zu einer Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, die allgemeine gesundheitliche Versorgung auf andere Art und Weise zu verbessern – notfalls auch mit Gewalt.»
«Die Gesundheit mit Gewalt verbessern? Tolle Theorie. Wie soll das funktionieren.»
Horsts Blick sucht eine Stelle irgendwo hinter seiner eigenen Stirn.
«Jetzt lass den Scheiß und hör mir zu. Life-Aid – beziehungsweise Teile davon – ist die Keimzelle einer Gruppe Gesundbeter mit dem Namen Sprengmeister , die es sich auf die Fahnen geschrieben haben, unser gutes, altes Gesundheitssystem notfalls mit Gewalt zurückzuholen. Auf jeden Fall stammen die Sprengstoffselbstmörder der letzten Zeit aus den Reihen der hoffnungslosen Fälle auf Jochens Station. Wie und warum es den Sprengmeistern gelingt, die Leute zu diesen quasi endzeittherapeutischen Maßnahmen zu überreden, entzieht sich meiner Kenntnis. So, das wars. Mehr weiß ich auch nicht.»
«Was hat Mandy damit zu tun?»
«Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass Jochen mir den Kater aufs Auge gedrückt hat. Und Mandy ist das Frauchen von Helmut. Das ist alles.»
«Mandy ist das Frauchen von Helmut, so, so …»
Horst rutscht unruhig hin und her, seine Stirn ist verdächtig feucht geworden.
«Carsten, ich schwöre dir …», setzt er hilflos an.
«Halt die Klappe und hör mir zu: Du wirst als Erstes herausfinden, wo die geheime Forschungsstation von Doktor Frankenstein ist …»
«Hast du sie nicht mehr alle? Wie soll ich das herausbekommen. Ich bin schließlich nicht Sherlock Holmes …»
«Sherlock Holmes bin ich. Wenns hoch kommt, bist du Doktor Watson.»
«Aber …»
«Keine Ausflüchte mehr! Du besorgst die Adresse, ich kümmere mich um den Rest.»
«Das heißt …?»
«Genau das heißt es. Ich habe einen Plan.»
xliv Ende der Illusionen
Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes? Als der gute, alte Berthold B. in den 1930er Jahren diesermaßen polemisierte, ahnte er nicht, dass seine flapsige Bemerkung ihre visionäre Kraft schon am Anfang des neuen Jahrtausends voll entwickeln sollte. Genau genommen entschied sich die damalige politische Führung nicht für ein neues Volk, sondern dafür, in Zukunft überhaupt ohne Volk auszukommen, zumindest, was die politische Willensbildung betrifft, wenn auch nicht die Arbeitsleistung. Auslöser dieser konsequenten Entwicklung war der steigende Unmut weiter Teile der damaligen Population, die einfach nicht einsehen wollten, dass ein stabiles Gerüst aus Politik, Banken, Versicherungen und Großunternehmen in einer globalisierten Welt den Verzicht des Normalbürgers auf Dinge wie Altersversorgung und ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystems nötig macht. Das daraus resultierende steigende Protestwählerverhalten führte zunächst zur Erstarkung basisdemokratisch orientierter Parteien und erzwang – nachdem das Schicksal lobbyistischer Kleinstparteien wie der FDP endgültig besiegelt war – die Fusion von SPD, CDU und CSU zur SCPD, der Sozialchristlichen Partei Deutschlands, deren erster parlamentarischer Kraftakt darin bestand, die Fünfprozenthürde auf vierzig anzuheben und mit der daraus resultierenden parlamentarischen Dreiviertelmehrheit ein paar äußerst praktische Änderungen des Grundgesetzes durchzusetzen. Der Rest war ein Kinderspiel. Obwohl von Zeitgenossen unablässig prognostiziert, blieben größere soziale Unruhen und andere staatszersetzende Maßnahmen aus. Wahrscheinlich, weil der Normalbürger die dem Wegfall überflüssiger Wahlvorgänge innewohnende Verwaltungsentlastung und die damit verbundene Vergrößerung seines Freizeitbudgets wohlwollend mit in die Gesamtrechnung einbezog. «Die da oben» konnten endlich schalten und walten, ohne sich ständig bei irgendwelchen Pseudowahlberechtigten für ihre ständigen Bescheißereien entschuldigen zu müssen, «die da unten» mussten sich nicht mehr von morgens bis abends vom – nunmehr
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