Die Springflut: Roman (German Edition)
Taschen zu füllen. Ihre ganze Erscheinung war wie gemacht für die große Bühne des Königlich Dramatischen Theaters. Eine verlebtere Variante der großen schwedischen Schauspielerin Margaretha Krook zu ihren Glanzzeiten. Der gleiche stechende Blick, die gleiche natürliche Autorität und eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte.
Sie verkaufte gut.
Die Hälfte ihres Stapels war sie bereits losgeworden.
Bei Arvo Pärt lief es weniger gut. Er verkaufte nichts. Stattdessen stand er ein paar Meter entfernt an eine Wand gelehnt. Es war nicht sein Tag, und er wollte nicht allein sein. Er schielte zu Vera hinüber, deren Stärke er bewunderte. Er wusste das eine oder andere über ihre dunklen Nächte, genau wie die meisten ihrer Bekannten. Trotzdem stand sie dort und sah aus, als gehörte ihr die ganze Welt. Eine Obdachlose. Es sei denn, man betrachtete einen heruntergekommenen grauen Wohnwagen aus den Sechzigern als vollwertiges Zuhause.
Das tat Vera.
»Ich bin nicht obdachlos.«
Was teilweise sogar der Wahrheit entsprach, da sie auf einer Warteliste der Stadt für Wohnungen stand, ein politisches Projekt, um die Lage der Penner in Stockholm ein bisschen zu beschönigen. Mit etwas Glück würde sie im Herbst probehalber eine Wohnung bekommen. Wenn sie sich im Griff hatte, konnte sie eventuell die ihre werden.
Vera hatte sich fest vorgenommen, sich im Griff zu haben.
Das hatte sie fast immer. Sie besaß ihren Wohnwagen und bezog eine Frührente von gut fünftausend Kronen im Monat, die mit Ach und Krach für das Nötigste reichte. Den Rest suchte sie sich aus Müllcontainern zusammen.
Es ging ihr nicht schlecht.
»Situation Stockholm!«
Inzwischen hatte sie drei weitere Exemplare verkauft.
»Du willst hier stehen?«
Die Frage kam von Jelle. Er war mit seinen fünf Zeitungen wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich in Veras Nähe gestellt.
»Ja. Wieso?«
»Das ist Bensemans Stelle.«
Jeder Verkäufer hatte eine eigene Verkaufsstelle in der Stadt. Der Platz stand zusammen mit dem Namen auf der Plastikkarte angegeben, die um ihren Hals hing. Auf Bensemans Karte hatte »Benseman/Markthalle Södermalm« gestanden.
»Es dürfte noch eine ganze Weile dauern, bis Benseman hier wieder steht«, erwiderte Vera.
»Das ist seine Stelle. Hast du hier eine Vertretungsstelle?«
»Nein. Hast du?«
»Nein.«
»Und was machst du dann hier?«
Jelle antwortete nicht. Vera ging einen Schritt auf ihn zu.
»Hast du etwas dagegen, dass ich hier stehe?«
»Es ist eine gute Stelle.«
»Ja.«
»Können wir sie uns nicht teilen?«, fragte Jelle.
Vera lächelte kurz und sah Jelle mit diesem Blick an, dem er immer möglichst schnell auswich. Er schaute zu Boden. Vera stellte sich dicht neben ihn, bückte sich ein wenig und suchte hochschauend seinen Blick. Als wollte sie von unten kommend einer Forelle auf den Leib rücken. Keine Chance. Jelle drehte sich weg. Vera ließ ihr typisches, heiseres Lachen hören, das vier Familien mit kleinen Kindern augenblicklich veranlasste, mit ihren elegant designten Buggys auszuweichen.
»Jelle!«, rief sie lauthals lachend.
Pärt drückte sich ein wenig von der Wand ab. Gab es Ärger? Er wusste, dass Vera leicht aus der Haut fuhr. Über Jelle wusste er hingegen wenig. Es hieß, er stamme aus den Schären, von einer weit draußen gelegenen Insel. Rödlöga, hatte irgendwer gesagt. Jelle ist der Sohn eines Robbenjägers! Aber es wurde so viel erzählt, und so wenig davon war wahr. Jetzt stand der angebliche Robbenjäger jedenfalls vor der Markthalle und stritt sich mit Vera.
Oder vielleicht auch nicht.
»Worüber streitet ihr euch?«
»Wir streiten uns nicht«, antwortete Vera. »Jelle und ich streiten uns nie. Ich sage, wie es ist, und er glotzt den Boden an. Stimmt’s?«
Vera drehte sich zu Jelle um, aber der war schon nicht mehr da, sondern fünfzehn Meter weiter. Er hatte nicht vor, sich mit Vera über Bensemans Verkaufsstelle zu streiten. Letztlich war es ihm vollkommen egal, wo Vera ihre Zeitungen verkaufte. Das musste jeder fliegende Händler selbst wissen.
Er war sechsundfünfzig Jahre alt, und im Grunde war ihm alles egal.
*
Olivia fuhr durch den späten Sommerabend nach Hause. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte an einem Tiefpunkt begonnen, sich wie üblich ein kleines Wortgefecht mit Ulf Molin geliefert und dann diesen Mordfall gefunden, von dem sie aus privaten und anderen Gründen nicht mehr loskam.
Während der Stunden in der
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