Die Springflut: Roman (German Edition)
wussten, dass sie in manchen Köpfen noch existierte. Einige von Olivias Kurskameraden hatten sich bereits von dem Jargon anstecken lassen.
»Werden Sie die Obdachlosen infiltrieren?«
»Infiltrieren?«
»Ja. Als Obdachlose agieren, um an die Täter heranzukommen.«
Als Rune Forss die Frage endlich verstand, schien es ihm schwerzufallen, sich ein Lächeln zu verkneifen.
»Nein.«
Olivia schaltete das Handy aus.
In der guten Version hätte eine dieser Obdachlosen auf einem schlichten Stuhl am Bett eines schwer verletzten Mannes gesessen. Ihre Hände hätten über die Decke des Mannes gestrichen und versucht, ihm ein wenig Trost zu spenden. In der wahren Version, die beschreibt, wie es wirklich war, hatte das Personal am Empfang des Krankenhauses jedoch augenblicklich den Sicherheitsdienst alarmiert, als die einäugige Vera auf dem Weg zu den Aufzügen die Eingangshalle durchquerte. Die Wachleute hatten sie in der Nähe von Bensemans Zimmer abgefangen.
»Hier dürfen Sie sich nicht aufhalten!«
»Warum denn nicht? Ich will doch nur einen Freund besuchen, der …«
»Kommen Sie jetzt bitte mit!«
Und damit war Vera hinausbegleitet worden.
Was eine verharmlosende Umschreibung dafür war, dass die Wachleute eine grölende Vera auf unnötig brutale und zutiefst beschämende Art an glotzenden Menschen vorbei durch die große Eingangshalle des Krankenhauses führten und mehr oder weniger auf die Straße warfen. Obwohl sie ihre gesammelten Menschenrechte in ihrer ganz persönlichen Version herunterleierte, flog sie hinaus.
In die Sommernacht. Und trat alleine ihre lange Wanderung zu dem Wohnwagen im Wald Ingenting im nördlichen Vorort Solna an.
In einer Nacht, in der junge, gewalttätige Männer unterwegs waren und Rune Forss auf dem Bauch liegend eingeschlafen war.
D ie Frau, die sich gerade einen Bissen Marzipantorte in den Mund schob, hatte roten Lippenstift aufgetragen, besaß eine große, grau melierte, gelockte Haarpracht und Volumen. So hatte es ihr Mann einmal ausgedrückt: »Meine Frau hat Volumen.« Was heißen sollte, dass sie sehr umfangreich war. Eine Tatsache, die sie phasenweise quälte, phasenweise aber auch nicht. Wenn ihr Übergewicht ihr wieder einmal zu sehr zusetzte, versuchte sie mit kaum messbarem Erfolg, das Volumen zu verringern. In den anderen Phasen genoss sie es, die Frau zu sein, die sie war. In diesem Moment saß sie in ihrem geräumigen Büro in der Landeskriminalpolizei und aß heimlich ein Stück Torte. Mit halbem Ohr lauschte sie gleichzeitig den Rundfunknachrichten. Eine Firma namens MWM , Magnuson World Mining, war soeben zum schwedischen Unternehmen des Jahres im Ausland gewählt worden.
»Die Nachricht hat am heutigen Tag zu heftigen Protesten von allen Seiten geführt. Das Unternehmen sieht sich wegen seiner Methoden beim Coltanabbau im Kongo mit massiver Kritik konfrontiert. Bertil Magnuson, der Vorstandsvorsitzende der Firma, stellte sich der Kritik mit den folgenden Worten.«
Die tortenessende Frau schaltete das Radio aus. Der Name Bertil Magnuson war ihr vertraut, seit sie in den achtziger Jahren im Fall eines vermissten Mannes ermittelt hatte.
Sie betrachtete eine Porträtaufnahme am Rande ihres Schreibtisches. Ihre jüngste Tochter Jolene. Das Mädchen sah sie mit einem eigentümlichen Lächeln und rätselhaften Augen an. Sie hatte das Down-Syndrom und war neunzehn Jahre alt. Geliebte Jolene, dachte die Frau, wohin wird das Leben dich noch führen? Sie wollte sich gerade nach dem letzten Bissen Torte strecken, als es an der Tür klopfte. Hastig schob sie den Teller hinter zwei stehende Aktenordner auf ihrem Tisch und drehte sich um.
»Herein!«
Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau schaute herein. Der Blick ihres linken Auges lag nicht ganz parallel zu dem des rechten, sie schielte leicht. Ihre Haare hatte sie zu einem strähnigen schwarzen Dutt hochgesteckt.
»Mette Olsäter?«, fragte der strähnige Dutt.
»Worum geht es?«
»Darf ich eintreten?«
»Worum geht es?«
Der strähnige Dutt schien sich nicht sicher zu sein, ob dies eine Aufforderung zum Eintreten war oder nicht, und blieb deshalb in der halb geöffneten Tür stehen.
»Ich heiße Olivia Rönning und gehe auf die Polizeischule, ich suche Tom Stilton.«
»Und warum?«
»Ich arbeite an einer Seminararbeit zu einem Fall, bei dem er die Ermittlungen geleitet hat, und müsste ihm einige Fragen stellen.«
»Um welchen Fall geht es?«
»Ein Mord auf der Insel Nordkoster im Jahr
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