Die Springflut: Roman (German Edition)
folgte Mette ihrer Blickrichtung und sah einige Meter die Straße hinunter eine Gestalt.
Mehr war nicht nötig.
»Treten Sie ein!«
Mit einigen hastigen Schritten war sie an Olivia vorbei. Ihr üppiger Körper bewegte sich verblüffend schnell über das Grundstück und durch das Tor. Stilton hatte sich nur ein paar Meter entfernt, als sie ihn auch schon einholte. Wortlos stellte sie sich vor ihn hin. Stilton wich ihrem Blick aus, das konnte er gut. Mette blieb stehen, wie Vera es auch immer getan hatte. Einen Augenblick später schob sie ihren Arm unter Stiltons, drehte ihn um und kehrte mit ihm zum Haus zurück.
Wie ein altes Ehepaar gingen sie. Ein großgewachsener, abgezehrter Herr mit Kopfverband und eine gelinde gesagt voluminöse Frau mit ein paar Schweißtropfen auf der Oberlippe. Als sie durch das Gartentor gekommen waren, blieb Stilton stehen.
»Wer ist alles da?«
»Jimi spielt mit den Kindern Computerspiele, sie sind in der oberen Etage, Jolene schläft. Mårten ist in der Küche.«
Olivia hatte Mette Olsäters Aufforderung befolgt und war in den Flur getreten oder wie man diesen mehr oder weniger überfüllten Raum nennen sollte, in dem sie über alles Mögliche steigen musste, um in ein angrenzendes Zimmer zu gelangen, in dem Licht brannte. Was für eine Art Zimmer das war, dafür hatte Olivia keine Worte. Es war groß, die Wände waren hübsch mit Holzlatten vertäfelt, an der Decke gab es weiße Stuckleisten, und im Raum verteilt lagen und standen seltsame Gegenstände.
Für die Leute, die sie auf unzähligen Reisen rund um den Globus besorgt hatten, waren sie allerdings nicht so seltsam. Philippinische Brautkronen, auf denen kleine, federverkleidete Affenschädel angebracht waren. Massaikeulen. Bunte Webarbeiten aus den Ghettos von Kapstadt. Große Rohre mit gemahlenem Skelett, die wie Geisterstimmen klangen, wenn man sie umdrehte. Es waren Gegenstände, die jemandem ins Auge gefallen waren und für die es in diesem großen Haus genügend Platz gab. Wo, war nicht so wichtig. Zum Beispiel hier, in diesem Zimmer.
Olivia kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Kann man wirklich so wohnen?, dachte sie. Von ihrem gepflegten und ordentlichen Elternhaus in Rotebro war das hier mindestens Lichtjahre entfernt.
Vorsichtig durchquerte sie den Raum und hörte im Hintergrund leises Klappern, auf das sie über zwei weitere exotisch eingerichtete Zimmer zuging, die Olivias Gefühl von … nun ja, sie wusste nicht recht, von was, verstärkten. Aber es gab etwas in diesen Räumen, das sie umschloss und ihre Faszination mit etwas anderem vermischte, was sie nicht in Worte fassen konnte.
Sie gelangte in die Küche, die nach ihren Maßstäben riesig und voller intensiver Düfte war, die ihr sofort in die Nase stiegen. Vor einem großen, modernen Gasherd stand ein korpulenter Mann mit wirren grauen Haaren und einer karierten Schürze. Er war siebenundsechzig Jahre alt und drehte sich gerade um.
»Hallo! Und wer sind Sie?«
»Olivia Rönning. Mette Olsäter meinte, ich solle hineingehen, sie ist …«
»Herzlich willkommen! Ich heiße Mårten. Wir wollten gerade essen, haben Sie Hunger?«
Mette schloss hinter Stilton die Tür und ging vor. Stilton blieb im Flur kurz stehen. An der Wand hing in einem Goldrahmen ein großer Spiegel, und als er zufällig einen Blick hineinwarf, zuckte er unwillkürlich zusammen. Gut vier Jahre war es her, dass er sein Gesicht gesehen hatte. Er schaute nie in Schaufenster, und auf Toiletten mied er bewusst jeden Spiegel. Er wollte sich nicht sehen, aber jetzt ließ es sich nicht mehr vermeiden. Er musterte das Gesicht im Spiegel. Es war nicht seins.
»Tom.«
Mette Olsäter stand ein paar Meter entfernt und sah ihn an.
»Wollen wir hineingehen?«
»Na, duftet das nicht herrlich?«
Mårten zeigte mit einem Schöpflöffel auf einen großen Topf auf dem Herd. Olivia stand neben ihm.
»Ja. Was ist das?«
»Tja, meine Liebe. Es war als Suppe gedacht, aber ich weiß nicht recht, wir werden es wohl einfach probieren müssen.«
Mette und Stilton traten ein. Mårten brauchte ein paar Sekunden, die Stilton nicht entgingen, aber dann lächelte er.
»Hallo, Tom.«
Stilton nickte ihm zu.
»Möchtest du etwas essen?«
»Nein.«
Mette war bewusst, wie sensibel die Situation war. Sie wusste genau, falls sich Spannungen einstellen sollten, könnte Tom das Haus von einer Sekunde auf die nächste wieder verlassen. Deshalb wandte sie sich rasch Olivia zu.
»Sie wollten mich
Weitere Kostenlose Bücher