Die Springflut: Roman (German Edition)
oberhalb gelegen den Cedergren’schen Turm, der sich über die Bäume erhob und im selben Moment ihren Mann oben vor der Villa, der mit einem kleinen Glas mit brauner Flüssigkeit auf dem Weg zu ihr war.
Schön.
»Hast du schon gegessen?«, fragte sie.
»Ja.«
Bertil Magnuson ließ sich auf dem Holzpoller neben der Yacht nieder. Er nippte an seinem Glas und sah seine Frau an.
»Ich muss mich entschuldigen.«
»Wofür?«
»Für einiges, ich bin eine Zeitlang ziemlich abwesend gewesen …«
»Stimmt. Geht es deiner Blase wieder besser?«
Die Blase? Die hatte sich schon recht lange nicht mehr gemeldet.
»Das scheint sich gegeben zu haben«, antwortete er.
»Das ist gut. Hast du noch etwas über den Mord an Nils gehört?«
»Nein. Oder doch, die Polizei hat sich heute gemeldet.«
»Bei dir?«
»Ja.«
»Was wollten sie?«
»Sie wollten wissen, ob Nils sich mit mir in Verbindung gesetzt hat.«
»Aha? Was … aber das hat er doch nicht getan, oder?«
»Nein. Seit er das Büro in Kinshasa verlassen hat, habe ich keinen Mucks mehr von ihm gehört.«
»Vor siebenundzwanzig Jahren«, sagte Linn Magnuson.
»Ja.«
»Und jetzt ist er ermordet worden. Siebenundzwanzig Jahre lang war er verschwunden, und dann wird er hier, in Stockholm, ermordet. Ist das nicht seltsam?«
»Unfassbar.«
»Und wo ist er all die Jahre gewesen?«
»Wenn ich das wüsste.«
Er hätte seine rechte Hand dafür gegeben, mit jemandem zu sprechen, der es wusste. Diese Frage stand bei ihm ganz oben auf der Tagesordnung. Wo zum Teufel hatte Wendt gelebt? »Das Original befindet sich an einem unbekannten Ort.« Das konnte überall sein. Als würde man nach einer Nadel in einem Heuhaufen suchen.
Bertil Magnuson lehnte sich leicht zurück und leerte sein Glas.
»Hast du wieder angefangen zu rauchen?«
Die Frage kam aus dem Nichts und überrumpelte ihn.
»Ja.«
»Warum?«
»Warum nicht?«
Seine Frau hörte den schneidenden Unterton sofort. Er war darauf eingestellt, direkt zum Angriff überzugehen, falls sie nachhaken sollte. Sie ließ die Sache auf sich beruhen.
Hatte ihn der Mord an Nils vielleicht doch mehr getroffen, als er ihr zeigen wollte?
*
»Da ist sie!«
Mårten zeigte auf die weißgetünchte Steinwand im Keller. Olivia folgte seinem Finger und sah eine große, schwarze Kellerspinne, die aus einer Spalte in der Wand krabbelte.
»Das ist Kerouac?«
»Ja. Eine echte Kellerspinne, keine gewöhnliche Hausspinne, sie ist acht Jahre alt.«
»So, so.«
Olivia betrachtete mit leicht kribbelnder Haut Kerouac, die eventuell an Arthritis leidende Spinne. Sie sah, dass sich das Tier mit langen, schwarzen Beinen und einem Körper, der einen Durchmesser von einem guten Zentimeter hatte, vorsichtig über die Wand bewegte.
»Kerouac liebt Musik, ist aber ziemlich wählerisch, es hat Jahre gedauert, bis ich herausgefunden habe, was ihm gefällt und was nicht, passen Sie auf!«
Mårten strich mit dem Finger über die andere Wand, die bis zur Decke mit großen und kleinen Vinylplatten vollgestellt war. Mårten war ein echter Fan, ein Vinylliebhaber mit einer der originellsten Plattensammlungen Schwedens. Jetzt zog er eine Single von Little Gerhard heraus, einem schwedi schen Rock-’n’-Roll-König von anno dazumal, und legte die B-Seite auf den Plattenspieler.
Einen Apparat mit einem Tonarm und einer Nadel.
Es dauerte nur wenige Akkorde, bis Kerouac stoppte. Als Little Gerhards Stimme in voller Lautstärke ertönte, änderte die Spinne die Richtung und krabbelte wieder auf ihren Spalt zu.
»Aber jetzt werden Sie Augen machen!«
Mårten war wie ein übereifriges Kind. Rasch zog er eine CD aus der wesentlich kleineren Sammlung an der Kopfwand, riss gleichzeitig den Tonarm von der Vinylplatte und presste die CD in den modernen Player.
»Schauen Sie! Und hören Sie!«
Es war Gram Parsons, ein Countrysänger, der eine Reihe von unsterblichen Liedern geschrieben hatte, ehe er an einer Überdosis starb. Nun ertönte der Song »Return of the Grievous Angel« aus Mårtens großen Boxen. Olivia starrte Kerouac an, der kurz vor dem Spalt stehen geblieben war. Die Spinne drehte ihren dicken schwarzen Körper um fast einhundertachtzig Grad und bewegte sich wieder in die ursprüngliche Richtung.
»Ziemlich eindeutig, nicht wahr?!«
Mårten sah Olivia an und lächelte. Sie wusste nicht recht, ob sie sich in der geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt oder im Haus der Kriminalkommissarin Mette Olsäter befand. Sie nickte und
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