Die Springflut: Roman (German Edition)
zu dem Mann weiterging. Meter für Meter, durch stille, dunkle Kurven marschierte er auf die fernen Lichter Santa Teresas zu. Er wusste, dass er Gefahr lief, sich eine Kugel in den Rücken einzufangen. Dagegen halfen auch keine schwarzen Messer. Gleichzeitig kam er zu dem Schluss, dass der dritte zusammen mit den beiden anderen einen Auftrag erhalten hatte. Das waren keine gewöhnlichen Einbrecher gewesen, denn warum sollten drei Einbrecher in ein Haus eindringen, das schon von weitem signalisierte, dass es in ihm sicher nichts zu holen gab? Zumal es an den umliegenden Hängen weitaus interessantere Häuser gab, die mehr im Regenwald verborgen und abgelegener lagen?
Dieses Trio war im Haus des ermordeten Nils Wendt auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem gewesen.
Was?
Die Bar hieß Good Vibrations Bar . Ein Werbegag, mit dem sich die Beach Boys wohl würden abfinden müssen. Kalifornien lag nicht gerade um die Ecke, aber die amerikanischen Surfer vor Ort verspürten vielleicht dennoch einen Hauch von Nostalgie, wenn sie die ziemlich schäbige Spelunke in Santa Teresa betraten.
Abbas saß am hinteren Ende einer langen und rauchgeschwängerten Theke. Alleine und mit einem knapp bemessenen Gin Tonic vor sich. Ausnahmsweise mal ein Drink. Er war mit angespannten Muskeln und Sinnen und kleinen Bewegungen, die spürten, wo die Messer saßen, durch die Dunkelheit gegangen. Und ohne eine Kugel im Rücken in der Bar angekommen. Jetzt hatte er Lust auf einen Drink. Wider besseres Wissen, sagte ein kleiner Winkel seines Gehirns, aber das restliche Gehirn fand es in Ordnung.
Er nahm an, dass der dritte draußen in der Dunkelheit wartete.
Abbas nippte an seinem Glas. Igeno, der Barkeeper, hatte ihn perfekt gemixt. Abbas drehte sich um und musterte die Klientel in der Bar. Braune und noch braunere und fast verbrannte Männer mit Oberkörpern, die einen bedeutenden Teil ihrer Identität ausmachten. Und Frauen. Einheimische Frauen und Touristinnen. Manche von ihnen waren vermutlich Reiseführer, ergänzt um eine Reihe von Surffans, alle im Gespräch mit dem einen oder anderen Oberkörper. Abbas’ Blick wanderte vom Schankraum über die Theke zur gegenüberliegenden Wand. Zwei ziemlich lange Bretter voller Schnaps- und Likörflaschen, die alle einem einzigen Zweck dienten.
Dann sah er sie.
Die Kakerlake.
Ein richtiges Prachtexemplar mit langen Fühlern und kräftigen gelbbraunen, auf dem Körper anliegenden Flügeln. Sie kroch in einer Lücke im Spirituosenregal über eine Bretterwand, die von Touristenfotos und Ansichtskarten bedeckt war. Plötzlich entdeckte Igeno Abbas’ Blick und ihm folgend die Kakerlake. Grinsend erschlug er das Insekt mit der flachen Hand. Mitten auf einem Foto, auf dem Nils Wendt einen Arm um eine junge Frau gelegt hatte.
Abbas stellte mit einem leisen Knall seinen Drink ab. Er zog ein Blatt aus seiner Gesäßtasche und versuchte, das Bild darauf mit dem Foto unter der zerquetschten Kakerlake zu vergleichen.
»Können Sie die bitte entfernen?«
Abbas zeigte auf die Kakerlake. Igeno wischte sie von der Wand.
»Sie mögen keine Kakerlaken?«
»Nein, sie versperren die Aussicht.«
Igeno lächelte, Abbas nicht. Er erkannte schnell, dass die junge Frau, um die Nils Wendt den Arm gelegt hatte, identisch war mit dem Mordopfer auf Nordkoster, jener Frau, die dort ertränkt worden war. Er leerte sein Glas. »Schau mal, ob du eine Verbindung zwischen Nils Wendt und dem Opfer auf Nordkoster findest«, hatte Stilton gesagt.
Er hatte sie gefunden.
»Noch einen?«
Igeno stand wieder vor Abbas.
»Nein, danke. Wissen Sie, wer die beiden auf dem Foto da sind?«
Abbas zeigte auf die Wand, und Igeno drehte sich um und zeigte auch auf das Bild.
»Das da ist der große Schwede, er heißt Dan Nilsson, aber die Frau sagt mir nichts.«
»Kennen Sie jemanden, der wissen könnte, wer sie ist?«
»Nein, oder doch, Bosques vielleicht …«
»Wer ist das?«
»Ihm hat die Bar hier früher einmal gehört, er hat die ganzen Bilder aufgehängt.«
Igeno nickte zu den Aufnahmen an der Wand.
»Wo finde ich diesen Bosques?«
»Zuhause. Er verlässt nie sein Haus.«
»Und wo steht das?«
»In Cabuya.«
»Ist das weit von hier?«
Igeno griff nach einer kleinen Landkarte und zeigte ihm darauf das Dorf, in dem Bosques wohnte. Abbas überlegte, ob er nach Mal Pais zurückkehren und Garcia bitten sollte, ihn hinzufahren, entschied sich jedoch aus zwei Gründen dagegen. Zum einen wegen des dritten Mannes, der sich
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