Die Springflut: Roman (German Edition)
1987.«
»Kommen Sie herein.«
Olivia trat ein und schloss die Tür. Es gab einen Stuhl in der Nähe von Olsäters Tisch, aber Olivia traute sich nicht, unaufgefordert Platz zu nehmen. Die Frau hinter dem Schreibtisch war nicht nur ausgesprochen umfangreich, sie strahlte zudem Autorität aus.
Immerhin war sie eine Kriminalkommissarin.
»Was ist das für eine Arbeit?«
»Wir sollen uns alte Mordermittlungen ansehen und uns überlegen, was man heute, mit modernen Methoden, vielleicht anders machen würde.«
»Eine Cold-Case-Übung?«
»So ungefähr.«
Es wurde still. Mette warf einen verstohlenen Blick auf ihr Tortenstück. Sie wusste, dass es ins Blickfeld geraten würde, wenn sie die junge Dame bat, Platz zu nehmen, deshalb sorgte sie lieber dafür, dass sie auf den Beinen blieb.
»Stilton hat gekündigt«, sagte sie kurz angebunden.
»Aha, okay. Wann?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein, ich … ich meine, er könnte meine Fragen ja vielleicht trotzdem beantworten. Auch wenn er nicht mehr hier arbeitet. Warum hat er gekündigt?«
»Aus privaten Gründen.«
»Was macht er heute?«
»Keine Ahnung.«
Wie ein Echo von Åke Gustafsson, dachte Olivia.
»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
»Nein.«
Mette Olsäter sah Olivia an, ohne eine Miene zu verziehen. Das Signal war deutlich. Das Gespräch war für sie beendet.
»Trotzdem danke«, sagte Olivia.
Sie ertappte sich dabei, sich fast unmerklich zu verneigen, bevor sie zur Tür ging. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal um.
»Sie haben da ein bisschen, na ja, Sahne oder so, am Kinn.«
Anschließend zog sie rasch die Tür hinter sich zu.
Mette Olsäter strich sich ebenso schnell mit der Hand über ihr Kinn und wischte den kleinen Sahneklecks fort.
Ärgerlich.
Aber auch ein bisschen komisch, darüber würde ihr Mann Mårten am Abend sicher herzlich lachen. Er liebte peinliche Momente.
Weniger lustig war, dass diese Rönning Tom suchte. Sie würde ihn sicher nicht finden, aber schon die Tatsache, dass sie seinen Namen erwähnt hatte, reichte aus, um Mette Olsäter innerlich aufzuwühlen.
Es gefiel ihr nicht, innerlich aufgewühlt zu sein.
Mette Olsäter war ein analytisch denkender Mensch, eine brillante Ermittlerin mit einem geschulten Intellekt und einer beeindruckenden Fähigkeit zu simultanem Handeln. Das war keine Prahlerei, sondern eine Tatsache, die sie zu der Position geführt hatte, die sie heute bekleidete. Sie war eine der erfahrensten Mordermittlerinnen im ganzen Land. Eine Frau, die einen kühlen Kopf behielt, wenn sensiblere Kollegen sich in irrelevante Emotionen verstrickten.
So etwas kam bei Mette Olsäter nicht vor.
Aber auch sie hatte ein Inneres, das sich in seltenen Fällen aufwühlen ließ. Und diese Fälle hatten fast immer etwas mit Tom Stilton zu tun.
Olivia hatte Mette Olsäters Büro mit einem Gefühl von … tja, von was verlassen? Sie wusste es nicht genau. Es war ihr so vorgekommen, als hätte es diese Frau gestört, dass sie nach Tom Stilton gefragt hatte. Aber warum? Er hatte einige Jahre die Ermittlungen in dem Mordfall auf Nordkoster geleitet, dann waren die Ermittlungen eingestellt worden. Und mittlerweile hatte er gekündigt. Riesensache. Dann würde sie diesen Stilton eben auf eigene Faust auftreiben müssen. Oder den Fall aufgeben, falls er sich als zu kompliziert herausstellen sollte. Obwohl sie das eigentlich nicht vorhatte, jedenfalls noch nicht und nicht so leicht. Es gab andere Wege, um an Informationen zu kommen, wenn sie schon einmal in den Polizeigebäuden unterwegs war.
Einer war Verner Brost.
Und deshalb eilte sie nun im Laufschritt einen gesichtslosen Bürokorridor hinunter, bis sie sieben Meter hinter ihm war.
»Entschuldigung!«
Der Mann hielt kurz inne. Er war Ende fünfzig und auf dem Weg zu einem leicht verspäteten Mittagessen. Er schien nicht gerade gut gelaunt zu sein.
»Ja?«
»Olivia Rönning.«
Olivia hatte ihn eingeholt und streckte ihm die Hand entgegen. Sie hatte schon immer einen festen Händedruck gehabt und hasste es, ein Milchbrötchen in die Hand zu bekommen. Verner Brosts Hand war so ein Milchbrötchen. Darüber hinaus war er der frisch ernannte Chef der Cold- Case-Gruppe in Stockholm. Ein erfahrener Ermittler mit der nötigen Patina aus Zynismus und echt empfundenem Berufsethos, ein im Großen und Ganzen guter Beamter.
»Ich wollte mich nur erkundigen, ob sie auch den Uferfall bearbeiten?«
»Den Uferfall?«
»Den Mord auf Nordkoster,
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