Die Springflut: Roman (German Edition)
den letzten Jahren kamen immer mehr und heute genug, um ihn vier Tage in der Woche zu beschäftigen. Die anderen drei verbrachte er in Gesellschaft der Einheimischen. Nie mit Touristen oder Surfern. Er war kein Wassermensch und interessierte sich auch nicht für Marihuana. Tatsächlich war er in fast jeder Hinsicht sehr maßvoll, fast anspruchslos, ein Mensch mit einer Vergangenheit, die vergangen bleiben sollte.
Er hätte perfekt in jedes Buch von Graham Greene gepasst.
Jetzt saß er mit seinem Notebook im Schoß auf einem Bambusstuhl und weinte, während zwei kleine, besorgte Jungen ein paar Meter entfernt saßen und keine Ahnung hatten, warum der große Schwede so traurig war.
»Sollen wir ihn fragen, was los ist?«
»Nein.«
»Vielleicht hat er ja etwas verloren, was wir für ihn finden können?«
Das hatte er nicht.
Dagegen hatte er unter Tränen schließlich eine Entscheidung getroffen, von der er geglaubt hatte, sie niemals treffen zu müssen, aber nun hatte er es doch getan.
Er stand auf.
Als Erstes suchte er seine Pistole heraus, eine Sig Sauer. Er wog sie ein wenig in der Hand und warf einen kurzen Blick zum Fenster. Er wollte nicht, dass die kleinen Jungen sie sahen. Er wusste, dass sie ihm mit etwas Abstand gefolgt waren. Das taten sie immer. Jetzt hockten sie draußen in den Sträuchern und warteten. Er senkte die Pistole, ging in sein Schlafzimmer und schloss die Fensterläden. Mit etwas Mühe schob er das Holzbett zur Seite und legte den Steinfußboden darunter frei. Eine der Platten war lose, und er hob sie ab. Unter ihr lag eine Ledertasche. Er nahm sie heraus, legte die Pistole in den Hohlraum und verschloss die Öffnung wieder mit der Steinplatte. Er merkte, dass er präzise, effektiv handelte, und wusste, dass er nicht vom Kurs abkommen, nicht nachdenken und nicht riskieren durfte, es sich doch noch anders zu überlegen. Mit der Ledertasche in der Hand ging er zu seinem Drucker im Wohnzimmer und griff nach einem dicht beschriebenen A4-Blatt, das er in die Tasche legte, in der sich bereits zwei andere Gegenstände befanden.
Als er aus seinem Haus trat, war die Sonne über die Bäume gestiegen und beschien seine schlichte Veranda. Die Hängematte schaukelte träge in der trockenen Brise, und er wusste, dass er auf der Straße mächtig Staub aufwirbeln würde. Verstohlen sah er sich nach den Jungen um. Sie waren verschwunden. Oder hatten sich versteckt. Einmal hatte er sie auf der Rückseite des Hauses unter einer Decke ertappt. Zunächst hatte er gedacht, sie wären ein großer Waran, der sich ans Haus geschlichen hatte, und hatte die Decke deshalb mit einer gewissen Vorsicht weggezogen.
»Was macht ihr denn da?!«
»Wir spielen Warane!«
Er setzte sich mit der Tasche in der Hand auf sein Quad und rollte zur Straße hinunter. Er wollte nach Cabuya, einem nahe gelegenen Dorf.
Er wollte einen Freund besuchen.
Es gab solche und solche Häuser, und dann gab es noch das Haus von Bosques, das einzigartig war. Ursprünglich war es eine Fischerhütte aus Holz gewesen, gezimmert von Bosques’ Vater vor ewigen Zeiten. Zwei kleine Zimmer. Dann war Familie Rodriguez gewachsen, sehr sogar, und bei jedem neuen Kind hatte Vater Rodriguez darauf bestanden anzubauen. Nach einiger Zeit war der Vorrat an legalem Bauholz jedoch aufgebraucht gewesen, woraufhin der Vater improvisieren musste, wie er es nannte, so dass er mit allem gebaut hatte, was ihm in die Finger gekommen war. Blech- und Laminatplatten und Netze verschiedener Art. Manchmal Treibholz, aber auch Teile eines untergegangenen Fischerboots. Dessen Kiel hatte Vater Rodriguez für sich selbst reserviert. Ein Erker an der Südseite, in den er mit etwas Mühe seinen Körper hineinzwängen, sich in das eine oder andere Glas schlechten Likörs verlieren und Castaneda lesen konnte.
Doch das galt für den Vater.
Rodriguez junior, also Bosques, war im Laufe der Zeit alleine in dem Haus zurückgeblieben. Seine sexuelle Veranlagung hatte ihm keine Kinder geschenkt, und sein letzter Liebhaber war vor zwei Jahren gestorben.
Bosques war inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt und hatte seit vielen Jahren keine Zikaden mehr gehört.
Aber er war ein guter Freund.
»Was soll ich mit der Tasche machen?«, fragte er.
»Du sollst sie Gilberto Lluvisio übergeben.«
»Aber er ist Polizist?«
»Gerade deshalb«, erwiderte Dan Nilsson. »Ich vertraue ihm. Er vertraut mir. Manchmal jedenfalls. Wenn ich bis zum ersten Juli nicht zurück bin, bringst du sie zu
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