Die Springflut: Roman (German Edition)
Tom Stilton und war einundzwanzig Jahre alt. Olivia speicherte den Artikel ab. Anschließend begann sie, nach Informationen zu seiner Person zu suchen.
Zwanzig Minuten später war sie kurz davor aufzugeben.
Ganz gleich, wo sie den Namen auch eingab: nirgendwo gab es einen Tom Stilton. Der Mann existierte nicht.
War er etwa wirklich ins Ausland gegangen, wie Brost erwähnt hatte? Saß er mit einem Cocktail vor sich in Thailand und gab vor ein paar betrunkenen Barbies mit seinen Mordermittlungen an? Oder war er vielleicht umgekehrt gepolt?
Homosexuell?
Das war er nicht.
Zumindest früher nicht, denn in der Vergangenheit war er zehn Jahre mit derselben Frau verheiratet gewesen. Marianne Boglund, forensische Sachverständige, eine spezialisierte Kriminaltechnikerin. Das hatte Olivia herausgefunden, als sie Stilton schließlich im Eheregister des Finanzamts ausfindig gemacht hatte.
Dort war er auch mit einer Adresse ohne Telefonnummer verzeichnet, die sie sich notierte.
*
Fast auf der anderen Seite des Erdballs, in einem kleinen Küstendorf in Costa Rica, lackierte sich ein älterer Mann seine Fingernägel mit Klarlack. Er saß auf der Veranda eines sehr seltsamen Hauses, und sein Name war Bosques Rodriguez. Von seinem Platz aus konnte er auf der einen Seite das Meer und auf der anderen Seite den Regenwald sehen, der einen Berghang hinaufkletterte. Früher hatte man ihn »Der alte Barbesitzer aus Cabuya« genannt. Wie sie ihn heute nannten, wusste er nicht. Er war nur noch selten in Santa Teresa, wo seine alte Bar lag. Er fand, dass der Ort seine Seele verloren hatte, was wohl vor allem an den Surfern und den vielen Touristen lag, die herbeiströmten und für fast alles die Preise in die Höhe trieben.
Selbst die für Wasser.
Bosques lächelte schwach.
Die Ausländer tranken immer Wasser aus Plastikflaschen, die sie für Wucherpreise kauften und anschließend wegwarfen. Danach hingen sie Plakate auf, die alle dazu ermahnten, umweltbewusst zu leben.
Aber der große Schwede in Mal Pais ist anders, dachte Bosques.
Ganz anders.
D ie beiden Jungen saßen unter einer windgepeitschten Palme schweigend im Sand und kehrten dem Pazifik den Rücken zu. Einige Meter entfernt saß ein Mann mit einem zugeklappten Notebook auf dem Schoß. Er hatte auf einem einfachen Bambusstuhl vor einem flachen blauen und grünen Haus Platz genommen, dessen Farbe abblätterte. Es war eine Art Restaurant, das zu willkürlichen Öffnungszeiten selbstgefangenen Fisch und Schnaps verkaufte.
Im Moment war es geschlossen.
Die Jungen kannten den Mann, er war einer ihrer Nachbarn im Dorf. Er war immer nett zu ihnen gewesen, hatte mit ihnen gespielt und für sie nach Muscheln getaucht. Sie begriffen, dass sie jetzt lieber still sein sollten. Der Oberkörper des Mannes war nackt, und er trug helle Shorts und war barfuß. Er hatte schüttere blonde Haare, und über seine braungebrannten Wangen liefen Tränen.
»Der große Schwede weint«, flüsterte einer der Jungen mit einer Stimme, die im lauen Wind verschwand. Der andere Junge nickte. Der Mann mit dem Notebook weinte schon seit vielen Stunden. Anfangs hatte er in seinem Haus im Dorf in den letzten Nachtstunden geheult, aber dann hatte er das Bedürfnis gehabt, frische Luft zu schnappen, und war zum Strand hinuntergegangen, wo er nun, das Gesicht dem pazifischen Ozean zugewandt, saß und weiterweinte.
Viele Jahre war es her, dass er hier, in Mal Pais, auf der Nicoya-Halbinsel in Costa Rica, eingetroffen war. Ein paar Häuser an einer staubigen Küstenstraße. Auf der einen Seite das Meer und auf der anderen der Regenwald. In südlicher Richtung nichts, in nördlicher Playa Carmen und Santa Teresa und eine Reihe anderer Dörfer. Allesamt Anziehungspunkte für Backpacker. Lange, fantastische Surfstrände, billige Zimmer und noch billigeres Essen.
Und niemand, der nach einem fragte.
Ein perfekter Ort, um sich zu verstecken, hatte er damals gedacht. Um noch einmal von vorne anzufangen.
Als Unbekannter.
Unter dem Namen Dan Nilsson.
Mit finanziellen Rücklagen, die ihn mehr schlecht als recht über Wasser hielten, bis er das Angebot bekam, Fremdenführer in einem nahe gelegenen Naturschutzgebiet zu werden. Cabo Blanco. Es war der perfekte Job für ihn. Mit seinem Quad war er in einer halben Stunde dort, und mit seinen wirklich guten Sprachkenntnissen konnte er sich um die allermeisten der Touristen kümmern, die den Weg dorthin fanden. Anfangs waren es nicht besonders viele gewesen, aber in
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