Die Springflut: Roman (German Edition)
wussten, dass sie auf der Liste der Fälle, die Priorität genossen, nicht unbedingt ganz oben standen.
Sie standen nicht einmal ganz unten.
Sie waren auf der Rückseite einer Dönerserviette, mit der Rune Forss sich den Mund abwischte.
Das wussten sie genau.
*
Der Hörsaal der Polizeischule war fast vollständig gefüllt. Es war der letzte Tag des Frühjahrssemesters, und sie hatten Besuch vom Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping. Eine Vorlesung über forensische Technik und Methodik.
Ein langer Vortrag mit der Möglichkeit, anschließend Fragen zu stellen.
»Es sind Forderungen laut geworden, dass wir mehr Speichelproben entnehmen sollen, wie sehen Sie das?«
»Wir sehen das ausgesprochen positiv. In Großbritannien werden schon bei Einbruchsdelikten Speichelproben entnommen, so dass der britischen Polizei mittlerweile eine riesige DNA -Datenbank zur Verfügung steht.«
»Und warum machen wir es nicht genauso?«
Die Frage kam wie üblich von Ulf.
»Das Problem, wenn man es denn als Problem beschreiben möchte, besteht in unseren Datenschutzbestimmungen. Wir dürfen diese Art von Datenbanken nicht erstellen.«
»Und warum nicht?«
»Zum Schutz der Privatsphäre.«
So ging es zwei Stunden lang weiter. Als die neuesten Entwicklungen bei DNA -Analysen zur Sprache kamen, erwachte Olivia zum Leben und stellte sogar eine Frage, was Ulf mit einem kurzen Lächeln registrierte.
»Kann man eine Vaterschaft bestimmen, indem man eine DNA -Probe von einem ungeborenen Fötus nimmt?«
»Ja.«
Die Antwort war kurz und eindeutig und kam von einer rothaarigen Frau in einem schlicht geschnittenen, blaugrauen Kleid. Einer Frau, die Olivias Aufmerksamkeit bereits erregt hatte, als man sie ihnen vorgestellt hatte.
Sie hieß Marianne Boglund und war Forensikerin beim SKL .
Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis der Groschen gefallen war, aber dann klirrte er dafür ziemlich laut. Das war also die Frau, mit der Tom Stilton früher verheiratet gewesen war.
Jetzt stand sie am Rednerpult.
Olivia überlegte, ob sie es mal mit Frechheit probieren sollte. Am Vortag war sie zu der Adresse gefahren, die als Stiltons angegeben gewesen war, aber dort hatte kein Stilton gewohnt.
Also beschloss sie, es mit Frechheit zu probieren.
Um Viertel nach zwei war die Vorlesung vorbei. Olivia hatte gesehen, dass Marianne Boglund Åke Gustafsson danach in dessen Büro begleitet hatte. Nun stand sie selbst davor und wartete.
Und wartete.
Sollte sie anklopfen? Oder war das zu aufdringlich? Und was war, wenn die beiden da drinnen Sex hatten?
Sie klopfte an.
»Ja, bitte?«
Olivia öffnete die Tür, grüßte und erkundigte sich, ob sie kurz mit Marianne Boglund sprechen könne.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Åke Gustafsson.
Olivia nickte und zog die Tür wieder zu. Die beiden hatten definitiv keinen Sex gehabt. Wie war sie nur darauf gekommen? Zu viele Filme? Oder weil Boglund eine wirklich attraktive Frau war und Åke Gustafsson diese Augenbrauen hatte?
Marianne Boglund kam heraus und streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.
»Was kann ich für Sie tun?«
Ihr Händedruck war trocken und fest, ihr Blick sehr förmlich, sie war bestimmt keine Frau, die einem schnell Zugang zu ihrer Privatsphäre gewährte. Olivia bereute ihr Vorhaben bereits.
»Ich versuche, Tom Stilton zu finden«, erklärte sie.
Schweigen. Eindeutig kein schneller Zugang.
»Ich finde seine Adresse nicht und keiner weiß, wo ich ihn finden kann, und deshalb wollte ich Sie einfach nur fragen, ob Sie vielleicht eine Ahnung haben, wo ich ihn antreffen könnte?«
»Nein.«
»Ist er ins Ausland gegangen?«
»Keine Ahnung.«
Olivia nickte, bedankte sich kurz, drehte sich um und ging den Korridor hinunter. Marianne Boglund blieb stehen. Ihre Augen folgten der jungen Frau. Unvermittelt lief sie ihr ein paar Schritte hinterher, blieb dann jedoch wieder stehen.
Marianne Boglunds Worte gingen Olivia nicht mehr aus dem Kopf. Mittlerweile hatte sie diese Antwort schon einige Male von verschiedenen Personen gehört. Offenbar die gängige Formulierung, wenn es um diesen Stilton ging. Sie resignierte ein wenig.
Und fühlte sich beschämt.
Sie hatte die Privatsphäre der Frau verletzt, das spürte sie. Als sie Stilton erwähnt hatte, war ein seltsamer Ausdruck in Boglunds Augen getreten. Ein Ausdruck, mit dem sie nicht das Geringste zu tun hatte.
Was machte sie hier eigentlich?
»Was machst du da?«
Es war nicht etwa ihre innere Stimme, die
Weitere Kostenlose Bücher