Die Springflut: Roman (German Edition)
körperliche Gestalt angenommen hatte, sondern Ulf. Er holte sie auf dem Weg zum Auto ein und lächelte.
»Bitte?«
»Die DNA eines ungeborenen Kindes? Warum wolltest du das wissen?«
»Reine Neugier.«
»Hast du das wegen dieses Falls auf Nordkoster gefragt?«
»Ja.«
»Worum geht es dabei?«
»Um einen Mord.«
»Ach wirklich, stell dir vor, so viel habe ich auch schon kapiert.« Und mehr sagt sie wie üblich nicht, dachte Ulf.
»Warum tust du eigentlich immer so geheimnisvoll?«, sagte er.
»Tue ich?«
»Ja.«
Damit hatte Olivia nicht gerechnet, weder damit, wie privat seine Frage war, noch mit ihrem Inhalt. Wieso denn geheimnisvoll?
»Was meinst du damit?«
»Ich meine damit, dass du einem immer irgendwie ausweichst, irgendeine Entschuldigung auf Lager hast oder eine …«
»Meinst du das mit dem Bier trinken gehen?«
»Das auch, aber eigentlich eher, dass du nie weiterredest. Du fragst und antwortest, und dann gehst du.«
»Aha?«
Worauf wollte er bloß hinaus? Fragen und antworten und gehen?
»So bin ich eben«, sagte sie.
»Sieht ganz so aus.«
An diesem Punkt hätte Olivia ihrem gängigen Handlungsmuster folgen und davonfahren können, aber auf einmal fiel ihr Molin senior ein. Ulf war der Sohn von Oskar Molin, einem der höchsten Beamten bei der Landeskriminalpolizei. Wofür er natürlich nichts konnte. Trotzdem hatte es Olivia anfangs ein wenig gestört, obwohl sie nicht ganz begriff, wieso. Vielleicht dachte sie, dass Ulf den anderen in der Klasse gegenüber im Vorteil war. Was natürlich überhaupt nicht stimmte. Er musste dieselben Sachen machen und bewältigen wie alle anderen auch. Außerdem wurde er zu Hause vermutlich stärker unter Druck gesetzt als sie. Später würde er jedoch mit Hilfe eines Vaters, der die dicksten Hindernisse aus dem Weg räumen konnte, sicherlich größere Aufstiegschancen haben als sie.
Egal.
»Hast du eigentlich Kontakt zu deinem Vater?«, erkundigte sie sich.
»Ja, klar. Warum fragst du?«
»Ich suche einen alten Kripobeamten, der gekündigt hat, und keiner scheint zu wissen, wo man ihn finden kann. Er heißt Tom Stilton. Vielleicht weiß dein Vater ja was?«
»Stilton?«
»Ja. Tom Stilton.«
»Ich kann ihn gerne mal fragen.«
»Danke.«
Olivia stieg in den Wagen und fuhr davon.
Ulf blieb zurück und schüttelte den Kopf. Eine schwierige Dame. Nicht eingebildet, aber schwierig. Sie hielt einen immer auf Distanz. Mehrmals hatte er versucht, sie zu überreden, mit ihm und ein paar anderen ein Bier trinken zu gehen, aber sie hatte immer eine Ausrede gehabt. Wollte lernen, wollte Sport machen, wollte Dinge tun, die alle anderen auch taten, die aber trotzdem noch die Zeit fanden, ein Bier trinken zu gehen. Ein bisschen geheimnisvoll, dachte Ulf, aber hübsch, mit leichtem Silberblick, schönen, vollen Lippen, immer erhobenem Kopf, ungeschminkt.
So leicht würde er nicht aufgeben.
*
Olivia auch nicht. Weder was den Ufermord noch was den verschwundenen Kripobeamten betraf. Gab es einen Zusammenhang zwischen seinem Verschwinden und dem Mordfall? Hatte er womöglich etwas entdeckt, war gestoppt worden und hatte sich daraufhin ins Ausland verzogen? Aber warum hätte er das tun sollen? Er hatte doch aus privaten Gründen gekündigt. War es das, was sie in Boglunds Augen gesehen hatte?
Olivia erkannte, dass ihre Fantasie mit ihr durchging. Das war der Nachteil, wenn man mit einer lebhaften Fantasie gesegnet und mit Eltern aufgewachsen war, die am Küchentisch Kriminalfälle gelöst hatten. Sie versuchte immer, eine Verschwörung, irgendeinen Zusammenhang zu finden.
Ein Rätsel, über dem sie einschlafen konnte.
Das weiße Auto fuhr auf den Klarastrandsleden. Die Musik in den Kopfhörern war dumpf und einschmeichelnd, diesmal liefen die Deportees. Olivia mochte Texte mit Tiefgang.
Als sie an der Kaninchenböschung vorbeifuhr, lächelte sie in sich hinein. Hier hatte ihr Vater immer abgebremst und seiner Tochter im Rückspiegel einen Blick zugeworfen.
»Na, wie viele sind es heute?!«
Und die kleine Olivia hatte gezählt, was das Zeug hielt.
»Siebzehn! Ich habe siebzehn gesehen!«
Olivia verdrängte die Erinnerung und gab Gas. Es war ungewöhnlich wenig Verkehr. Anscheinend haben die Ferien schon begonnen, dachte sie. Die Leute sind aufs Land gefahren. Sie musste an das Sommerhaus der Familie auf Tynningö denken, wo sie mit Maria und Arne inmitten einer geschützten Idylle die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte. Ein kleiner See, Flusskrebse,
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