Die Springflut: Roman (German Edition)
ein wenig hektisch zwischen den Programmen hin und her. Plötzlich stutzte der andere.
»Guck mal!!«
Der Mann mit der Fernbedienung hatte einen Kanal eingeschaltet, auf dem immer wieder ein Mann getreten wurde.
»Das ist doch der Typ im Park! Das ist unser verdammter Handyfilm!«
Zwei Sekunden später tauchte eine Moderatorin auf dem Bildschirm auf und leitete eine zusätzlich ins Programm aufgenommene Diskussionsveranstaltung ein.
»Sie sahen einen kurzen Ausschnitt aus einem der Gewaltvideos auf der Seite Trashkick, über die derzeit so viel debattiert wird. Wir werden gleich über sie sprechen.
Sie machte eine Geste in Richtung Kulissen.
»Sie ist eine bekannte Journalistin, die seit vielen Jahren über große gesellschaftliche Probleme schreibt wie Drogen, Prostitution, Menschenhandel … gegenwärtig arbeitet sie an einer Artikelserie über gewaltbereite Jugendliche – herzlich willkommen, Eva Carlsén!«
Die Frau, die das Studio betrat, trug eine schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein schwarzes Jackett. Sie hatte ihre blonden Haare hochgesteckt, und ihre halbhohen Absätze trugen einen durchtrainierten Körper. Sie war fast fünfzig, wusste, was sie tat, und hatte Charisma.
Eva Carlsén nahm in einem Studiosessel Platz.
» Vor ein paar Jahren haben Sie ein viel beachtetes Buch über so genannte Escortservices in Schweden geschrieben, ein Deckname für Luxusprostitution, heute beschäftigen Sie sich mit gewaltbereiten Jugendlichen. Ihre Artikelserie beginnen sie mit den folgenden Worten …«
Die Moderatorin hob eine Zeitung an.
» Angst ist die Mutter des Bösen und Gewalt der Hilfeschrei des verlorenen Kindes. Die Angst ist der Nährboden für die sinnlose Gewalt Jugendlicher, die wir heute beobachten müssen. Es ist die Angst, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der du nicht gebraucht wirst.«
Die Moderatorin ließ die Zeitung sinken und sah Eva Carlsén an.
»Harte Worte. Ist die Lage wirklich so schlimm?«
»Ja und nein. Wenn ich schreibe, ›die sinnlose Gewalt Jugendlicher‹, meine ich damit natürlich eine ganz bestimmte Art von Gewalt, ausgeübt von bestimmten Individuen in einem begrenzten Umfang. Das heißt mit anderen Worten nicht, dass Jugendliche generell gewaltbereit sind, im Gegenteil, wir reden hier über eine relativ kleine Gruppe.«
»Trotzdem sind wir alle schockiert über diese Filme, die ins Netz gestellt wurden und in denen Obdachlose brutal misshandelt werden. Wer tut so etwas?«
»Im Grunde genommen sind die Täter verletzte, gedemütigte Kinder, Kinder, die nie eine Chance hatten, echtes Mitgefühl zu entwickeln, weil sie von der Welt der Erwachsenen im Stich gelassen wurden. Deshalb übertragen sie ihre eigene Demütigung nun auf Menschen, die in ihren Augen noch wertloser sind als sie selbst, im vorliegenden Fall auf Obdachlose.«
»Was labert die denn da für eine Scheiße!!«, rief der junge Mann in der dunkelgrünen Jacke. Sein Freund streckte sich nach der Fernbedienung.
»Warte! Ich will das hören.«
Auf dem Bildschirm schüttelte die Moderatorin den Kopf und stellte ihre nächste Frage.
»Und wer trägt die Schuld.«
»Es ist unser aller Schuld. Wir alle, die wir eine Gesellschaft erschaffen haben, in der junge Menschen so weit außerhalb aller sozialer Schutznetze landen können, dass sie unmenschlich werden.«
»Und was kann man Ihrer Meinung nach dagegen tun? Kann man überhaupt etwas dagegen unternehmen?«
»Es ist eine politische Entscheidung, wie unsere Gesellschaft die vorhandenen Mittel investieren will. Ich kann nur beschreiben, was geschieht, warum es geschieht und welche Folgen es hat.«
»Schockierende Filme im Internet?«
»Unter anderem.«
An dieser Stelle drückte der junge Mann auf die Fernbedienung. Auf seinem Unterarm hatte er ein kleines Tattoo.
Zwei Buchstaben in einem Kreis: KF .
»Wie hieß die Alte?«, erkundigte sich sein Freund.
»Carlsén. Komm, wir müssen nach Årsta!«
*
Edward Hopper hätte es gemalt, wenn er noch leben würde, ein Schwede wäre und sich in dieser Nacht östlich von Stockholm in einem Waldgebiet am Järlasjön aufgehalten hätte.
Er hätte diese Szene gemalt.
Er hätte das Licht der einzigen schmalen Laterne an einem hohen Metallpfahl eingefangen und wie dieses sanfte, gelbe Licht auf die lange, verlassene Straße fiel, auf den Asphalt, die Leere, die dumpfen grünen Schatten des Waldes, und genau am Rande des Lichtkegels befand sich die einsame Gestalt, ein abgezehrter, großer
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