Die Springflut: Roman (German Edition)
Ansammlung von Holzhäusern am Wasser. Ein paar rote und schwarze Fischerhütten. Das Restaurant Strandkanten . Zwei Souvenirläden mit einer Mischung aus Schärenkitsch und alten Fischerutensilien. Und dahinter Leffes Waschsalon. Und Leffes Fischhandel.
Leffes Kajakverleih.
Und Leffes Veranda.
»Dieser Leffe hat anscheinend viele Eisen im Feuer?«
»Kann man wohl sagen, wir nennen ihn Hansdampf, er ist auf der Ostseite der Insel aufgewachsen. Er war einmal in Strömstad und hat dort Kopfschmerzen bekommen, seither bleibt er lieber hier. Da ist es!«
Inzwischen befanden sie sich ein ganzes Stück oberhalb des Hafens. Kleine und größere Häuser säumten die schmale Straße, fast alle gepflegt, geputzt und frisch gestrichen. Das würde Mama gefallen, dachte Olivia und schaute in die Richtung, in die Betty zeigte und in der ein großes, architektonisch interessantes Haus schön auf einer Böschung mit Meerblick stand.
»Das ist Magnusons Haus. Bertil Magnuson, Sie wissen schon, der Mann, dem dieses Bergbauunternehmen gehört, er hat es in den Achtzigern gebaut, schwarz, ohne jede Genehmigung, und anschließend hat er sich freigekauft.«
»Wie das?«
»Er hat die Bonzen von der Stadtverwaltung eingeladen und hundert Hummer aus den USA einfliegen lassen. Damit war das Problem aus der Welt geschafft. Für die Landratten gelten etwas andere Regeln als für uns.«
Ihr Spaziergang führte sie nun in den dünner besiedelten Teil der Insel. Betty erklärte, und Olivia lauschte ihr gern, denn Betty konnte gut erzählen. Olivia war vollauf damit beschäftigt, sich zu merken, wer verbotenerweise Hummer gefischt oder eine Affäre mit der Frau eines anderen gehabt hatte oder seinen Garten verwildern ließ.
Große und kleine Verbrechen.
»Da drüben wohnte übrigens sein Kompagnon, der dann verschwunden ist.«
»Wessen Kompagnon?«
Betty sah Olivia an.
»Magnusons natürlich, von dem ich eben erzählt habe.«
»Aha. Und wer ist verschwunden? Magnuson?«
»Nein, sein Kompagnon. Ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Jedenfalls ist er verschwunden, und wenn ich mich recht erinnere, ist man damals davon ausgegangen, dass er gekidnappt oder ermordet wurde.«
Olivia blieb stehen.
»Wie bitte?! Ist das hier passiert?!«
Betty musste über Olivias erregte Miene grinsen.
»Nein, irgendwo in Afrika, und zwar vor vielen, vielen Jahren.«
Olivias Fantasie war dennoch geweckt worden.
»Wann ist er denn verschwunden?«
»Irgendwann in den Achtzigern.«
Jetzt hatte Olivia Witterung aufgenommen. Gab es da etwa einen Zusammenhang?
»Ist das in dem Jahr gewesen, als hier eine Frau ermordet worden ist?«
Betty Nordeman blieb unvermittelt stehen und wandte sich Olivia zu.
»Sind Sie deshalb hier? Als Touristin auf den Spuren eines Mordes?«
Olivia versuchte Bettys Reaktion zu ergründen. Hatte sie sich über die Frage geärgert? Olivia beeilte sich, ihr zu erklären, warum sie auf der Insel war. Dass sie die Polizeischule besuchte und an einer Seminararbeit über den Ufermord arbeitete.
»So, so. Sie wollen Polizistin werden.«
Betty Nordeman musterte Olivia mit ungläubigen Augen.
»Ja, das habe ich vor, aber meine Ausbildung ist natürlich noch nicht …«
»Nun ja, jedem das seine.«
Die Inselbewohnerin schien nicht sonderlich daran interessiert zu sein, mehr über Olivias zukünftige Laufbahn zu erfahren.
»Die Antwort lautet jedenfalls nein, er ist nicht in dem Jahr verschwunden, in dem die Frau ermordet wurde.«
»Und wann ist er verschwunden?«
»Viel früher.«
Olivia war enttäuscht. Andererseits, was hatte sie erwartet? Dass sie einen Zusammenhang zwischen einem Mordfall und dem Verschwinden eines Menschen entdecken würde, sobald sie ihren Fuß auf Nordkoster setzte? Den die Polizei noch dazu all die Jahre übersehen hatte?
Sie begegneten ein paar Familien auf Fahrrädern, die Betty alle grüßte, während sie weitersprach.
»Aber diesen Mord am Ufer, den vergisst hier keiner. Das war schrecklich. Der hing uns noch jahrelang nach.«
»Waren Sie hier, als es passiert ist?«
»Ja, natürlich. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?«
Betty Nordeman sah Olivia an, als wäre das die dümmste Frage gewesen, die man ihr je gestellt hatte, weshalb Olivia es sich sparte, darauf hinzuweisen, dass es außerhalb von Nordkoster eine ganze Welt gab, in der sie sich hätte aufhalten können. Es folgte ein langer Wortschwall darüber, was Betty Nordeman getan hatte, als der Rettungshubschrauber landete und die Insel
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