Die Springflut: Roman (German Edition)
und ein wenig gebeugter Mann, vielleicht auf dem Weg ins Licht, vielleicht auch nicht … er wäre mit seinem Bild zufrieden gewesen.
Oder auch nicht.
Vielleicht hätte es ihn gestört, dass sein Modell plötzlich von der Straße abwich und im Wald verschwand? Und dem Maler eine öde Straße der Enttäuschung hinterließ.
Dem verschwundenen Modell war das jedoch völlig egal.
Der Mann war unterwegs zu seinem Nachtquartier, dem halb eingestürzten Holzschuppen hinter einem stillgelegten Maschinenpark. Dort hatte er ein Dach gegen Regen, Wände gegen den Wind, einen Boden gegen die schlimmste Kälte. Kein Licht, aber was sollte er auch damit? Er wusste, wie es in dem Raum aussah. Wie er selbst aussah, hatte er schon vor Jahren vergessen.
Hier schlief er.
Bestenfalls.
Schlimmstenfalls, wie in dieser Nacht, krabbelte heran, was er nicht haben wollte. Es waren keine Ratten oder Kakerlaken oder Spinnen, Tiere durften von ihm aus so viel krabbeln, wie sie wollten. Was da näher krabbelte, kam von innen.
Aus dem, was vor langer Zeit geschehen war und womit er nicht umgehen konnte.
Das konnte er nicht mit einem Stein erschlagen oder durch heftige Bewegungen verscheuchen. Das konnte er nicht einmal mit einem Schrei töten. Obwohl er auch in dieser Nacht kaputtzuschreien versuchte, was da krabbelte, wohl wissend, dass es sinnlos war.
Die Vergangenheit tötete man nicht mit einem Schrei.
Nicht einmal, wenn man eine Stunde lang ununterbrochen schrie. Dabei machte man sich nur die Stimmbänder kaputt. Wenn man das getan hatte, griff man zu dem, was man nahm, weil man wusste, dass es einem half und einen gleichzeitig zerstörte.
Man nahm seine Medikamente.
Haldol und Stesolid.
Sie töteten, was da krabbelte, und ließen den Schrei verstummen. Und verstümmelten ein weiteres Stück seiner Menschenwürde.
Danach dämmerte man weg.
D ie Bucht hatte die gleiche Form wie damals. Die Felsen lagen noch da, wo sie immer gelegen hatten. Das Ufer erstreckte sich in einem weiten Bogen entlang des gleichen dichtbewachsenen Waldsaums. Bei Ebbe fiel der Meeresgrund immer noch bis weit draußen trocken. In dieser Hinsicht hatte sich an der Bucht Hasslevikarna dreiundzwanzig Jahre später nichts verändert. Es war nach wie vor ein schöner und friedvoller Ort. Wer heute zu ihr kam, konnte sich mit Sicherheit nicht vorstellen, was sich dort in jener Nacht abgespielt hatte, in der eine Springflut aufgelaufen war.
*
Er trat in kurzer Lederjacke und schwarzer Jeans aus der Ankunftshalle des Göteborger Flughafens Landvetter. Umgezogen hatte er sich auf der Toilette. Er kam mit leeren Händen und ging zielstrebig zu der Reihe wartender Taxis. Ein morgendlich müder Einwanderer stieg aus dem vordersten Wagen und öffnete eine der hinteren Türen.
Dan Nilsson stieg ein.
»Zum Hauptbahnhof, bitte.«
Von dort wollte er einen Zug nach Strömstad nehmen.
*
Es war schon spürbar gewesen, als die Kostervåg das Hafenbecken verlassen hatte. Die hohen Wellen setzten der großen, roten Fähre zu und wurden mit jeder Seemeile höher. Die ganze Nordsee rollte heran. Als Windstärke neun bis zehn erreicht war, spürte Olivia es im Magen. Sie wurde eigentlich nie seekrank. Mit ihren Eltern war sie oft im Boot unterwegs gewesen, meistens in den inneren Schärengewässern, aber auch dort konnte es sehr stürmisch werden. Ihr Körper reagierte eigentlich immer nur, wenn lange, schwere Wogen heranrollten.
Wie jetzt.
Sie hielt nach der Toilette Ausschau. Auf der linken Seite, gegenüber der Kantine. Die Überfahrt würde nicht sonderlich lange dauern, das sollte sie eigentlich schaffen. Sie hatte sich eine Tasse Kaffee und eine Zimtschnecke gekauft, wie man es auf Fähren dieser Art tat, und sich an eines der großen Fenster gesetzt. Sie war neugierig auf die Schären hier, die so ganz anders waren als an der Ostküste. Hier waren die Felsen flacher, glattgeschliffen, dunkel.
Gefährlich, dachte sie, als sie sah, wie die Wellen sich weiter draußen an einer kaum sichtbaren Untiefe brachen.
Für den Kapitän war das jedoch bestimmt Routine. Drei Fahrten hin und zurück im Winterhalbjahr, und jetzt, im Juni, mindestens zwanzig pro Tag. Olivia ließ den Blick über das Innere des Boots schweifen. Der Passagierraum war ziemlich voll, obwohl es eine frühe Fähre war. Inselbewohner, die nach ihrer Nachtschicht in Strömstad auf dem Festland nach Hause fuhren. Sommergäste auf dem Weg in die erste Urlaubswoche. Ergänzt um einige Tagestouristen.
Wie
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