Die Springflut: Roman (German Edition)
Mülleimer und schnürte die Mülltüte zu, sobald sie ihn fallen gelassen hatte. Sie hatte das Gefühl, dass er zum Leben erwachen könnte.
Jetzt würde sie in ihre Mails schauen.
Lauter Spams. Dann klingelte ihr Handy.
Es war ihre Mutter.
»Du bist noch wach?«, fragte sie.
»Es ist halb neun.«
»Bei dir weiß man ja nie.«
»Weshalb rufst du an?«
»Wann soll ich dich morgen abholen kommen?«
»Bitte?«
»Hast du Tesakrepp gekauft?«
Tynningö? Ja, richtig! Maria hatte zwei Tage zuvor angerufen und erklärt, es werde Zeit, sich die Sonnenseite der Fassade vorzunehmen, die am meisten auszuhalten habe. Die Arne immer so wichtig gewesen sei. Die wollten sie am kommenden Wochenende streichen. Sie hatte erst gar nicht gefragt, ob Olivia vielleicht schon etwas vorhatte. Das hatte man in Marias Welt nicht, wenn man Marias Tochter war und Maria Pläne geschmiedet hatte.
An diesem Wochenende würden sie die Wand streichen.
»Das klappt leider nicht.«
Blitzschnell durchkämmte Olivia ihr Gehirn auf der Suche nach einer passenden Entschuldigung.
»Was soll das heißen? Was klappt nicht?«
Eine Zehntelsekunde, bevor sie ertappt worden wäre, fiel ihr Blick auf das Kompendium. Der Ufermord.
»Ich muss am Wochenende nach Nordkoster fahren.«
»Nach Nordkoster? Was willst du denn da?!«
»Es ist für die Polizeischule, eine Seminararbeit.«
»Kannst du das nicht auf nächstes Wochenende verschieben?«
»Nein … ich habe schon die Fahrkarte gekauft.«
»Aber die kannst du doch sicher …«
»Weißt du, worum es dabei geht?! Um einen Mordfall, in dem Papa ermittelt hat! In den Achtzigern! Ist das nicht spannend?!«
»Was?«
»Dass es derselbe Fall ist.«
»Er hat in vielen Fällen ermittelt.«
»Ich weiß, aber trotzdem.«
Es wurde ein kurzes Gespräch. Maria schien einzusehen, dass sie Olivia nicht zwingen konnte, sie aufs Land zu be gleiten. Also erkundigte sie sich, wie es Elvis ging, und legte auf, sobald Olivia geantwortet hatte.
*
Jelle war den ganzen Tag für sich geblieben. Er hatte ein paar Zeitungen verkauft, war zur Tafel der Neuen Gemeinschaft in der Kammakargatan gegangen, wo er etwas zu essen bekommen hatte, und war anderen Menschen ansonsten aus dem Weg gegangen. Das tat er die meiste Zeit. Vera und vielleicht noch zwei oder drei andere Obdachlose bildeten die Ausnahme, ansonsten mied er jeden menschlichen Kontakt. So hielt er es schon seit Jahren. Er hatte sich eine Glocke aus Einsamkeit erschaffen, sich körperlich und mental isoliert und eine innere Leere erzeugt, in der er zu bleiben versuchte, eine Leere, der jegliche Vergangenheit entzogen war. Alles, was gewesen war und nie wieder sein würde. Er hatte psychische Probleme, die diagnostiziert worden waren, und nahm Medikamente, um seine Psychosen in Schach zu halten. Um halbwegs funktionieren zu können. Oder um zu überleben, dachte er, was der Wahrheit wohl näherkam. Um sich vom Aufwachen bis zum Einschlafen zu schleppen und dabei so wenig Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen wie möglich.
Und so wenig wie möglich daran zu denken, wer er früher gewesen war, in einem anderen Leben, einem anderen Universum, bevor der erste Blitz einschlug, der sein normales Dasein hinwegfegte und eine Kettenreaktion aus Zusammenbrüchen und Chaos und schließlich die erste Psychose auslöste. Und die Hölle, die auf sie folgte.
Wie er zu einem vollkommen anderen Menschen geworden war, der schrittweise und bewusst alle menschlichen Kontakte gekappt hatte. Um sinken und sich fallen lassen zu können.
Um sich alles zu ersparen.
Objektiv betrachtet war das vor sechs Jahren gewesen, für Jelle war es jedoch schon wesentlich länger her. Für ihn hatte jedes Jahr, das verstrichen war, jegliche normale Wahrnehmung von Zeit ausradiert. Er befand sich in einem zeitlosen Nichts. Er holte Zeitungen, verkaufte Zeitungen, aß gelegentlich, suchte nach halbwegs geschützten Schlafplätzen, an denen er seine Ruhe hatte. Vor einer Weile hatte er vor den Toren der Stadt einen abseits gelegenen, alten und halb verfallenen Holzschuppen gefunden.
Dort würde er sterben können, wenn es so weit war.
Dorthin war er jetzt unterwegs.
*
Der Fernseher hing an der Wand eines spärlich möblierten Zimmers. Er war ziemlich groß. Heutzutage bekam man ein 42-Zoll-Gerät für einen Spottpreis nachgeschmissen. Vor allem, wenn man es in einem weniger renommierten Laden erwarb. Zwei junge Burschen saßen davor, deren Jacken Kapuzen hatten. Der eine von ihnen zappte
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