Die Springflut: Roman (German Edition)
Schwimmschule und Wespen.
Jetzt war Arne fort, genau wie die Krebse. Heute waren nur noch sie und ihre Mutter übrig. Und das Sommerhaus, das für sie so eng mit Arnes Werkeleien und dem Angeln und seinen immer neuen Einfällen an den Abenden verbunden war. Da draußen war er zu einem ganz anderen Vater geworden. Zu einem Vater, der für seine Tochter da war und Zeit für all das hatte, wofür im Berufszuhause, wie sie ihr Elternhaus in Rotebro nannte, kein Platz gewesen war. Wo alles genau festgelegt und geregelt ablief und es hieß, »nicht jetzt, Olivia, wir reden später darüber«. Im Sommerhaus war es stets umgekehrt gewesen.
Aber jetzt war Arne nicht mehr da, nur ihre Mutter Maria lebte noch, und das war einfach nicht das Gleiche. Das Sommerhaus war für sie eher zu einer Belastung geworden, weil es laufend instand gehalten werden musste, damit Arne sich nicht geschämt hätte, wenn er es denn hätte sehen können. Aber wie sollte er denn? Er war doch tot. Ihm war es mit Sicherheit egal, ob die Farbe von der Fassade abblätterte. Maria dagegen nicht. Manchmal fand Olivia das neurotisch, als müsste Maria da draußen arbeiten, um etwas anderes in Schach zu halten. Sollte sie ihre Mutter darauf ansprechen? Vielleicht sollte sie …
»Ja?«
Ihr Handy hatte geklingelt.
»Hallo, ich bin’s, Ulf!«
»Hallo.«
»Ich habe mit meinem Vater über diesen Stilton gesprochen.«
»So schnell?! Toll. Danke! Was hat er gesagt?«
»Keine Ahnung … hat er gesagt.«
»Okay. Er hat also keine Ahnung, wo Stilton steckt?«
»Nein. Aber von dem Fall auf Nordkoster hatte er schon einmal gehört.«
»Aha.«
Es wurde still. Olivia fuhr gerade auf der Brücke, die an der Altstadt vorbeiführte. Was sollte sie noch sagen? Danke? Für was? Wieder einmal »keine Ahnung«.
»Trotzdem danke.«
»Gern geschehen. Wenn ich dir noch bei etwas anderem helfen kann, ruf mich einfach an.«
Olivia drückte ihn weg.
*
Bosques’ Schwester hatte ihn nach Paquera auf der anderen Seite der Halbinsel gefahren. Dort hatte er die Fähre nach Puntaneras genommen und anschließend ein Taxi nach San José. Das war zwar teuer, aber er wollte sein Flugzeug nicht verpassen.
Vor Juan Santamaria, dem internationalen Flughafen von San José, stieg er aus dem Taxi. Er hatte kein Gepäck dabei. Die Luft war heiß und feucht. Die Schweißringe auf seinem dünnen Hemd reichten fast bis zur Taille. Ein paar Meter weiter strömten frisch eingetroffene Touristen aus dem Gebäude und waren begeistert von der Hitze. Costa Rica! Endlich waren sie da!
Nilsson betrat die Abflughalle.
»Welches Gate ist es?«
»Sechs.«
»Wo ist die Sicherheitskontrolle?
»Dort.«
»Danke.«
Er marschierte in Richtung Kontrolle. Er war nie in diese Richtung gereist, nur aus ihr angekommen. Vor langer Zeit. Jetzt würde er das Land verlassen. Er versuchte, konzentriert zu bleiben. Das war unabdingbar. Er durfte nicht denken, musste immer nur den nächsten Schritt im Auge haben. Jetzt kam der Sicherheitsschritt, dann kam der Gateschritt, danach würde er an Bord gehen. Wenn er schließlich dort war, dann würde er dort sein. Ab da spielte es keine große Rolle mehr, ob er ein wenig ins Wanken geriet, damit würde er zurechtkommen. Wenn er dort war, würde der nächste Schritt folgen.
Der Schwedenschritt.
Unruhig rutschte er auf seinem Flugzeugsitz hin und her.
Wie befürchtet war er in der Maschine zusammengesackt. Sein Schutzschild hatte nachgegeben, und Stück für Stück war die Vergangenheit eingebrochen.
Als die professionell freundlichen Flugbegleiter ihre Arbeit getan hatten und in der Maschine endlich das Licht gelöscht wurde, war er eingeschlafen. Jedenfalls hatte er das geglaubt.
Aber was sich in dem traumgleichen Wachzustand in seinem Gehirn abspielte, ließ sich kaum als Schlaf bezeichnen, eher als eine Folter mit Bestandteilen, die quälend greifbar waren.
Ein Ufer, ein Mord, ein Opfer.
Darum drehte sich alles.
Und darum würde sich auch weiterhin alles drehen.
*
Olivia hatte den Abfluss im Badezimmer in Angriff genommen. Mit wachsendem Ekel hatte sie mit Hilfe einer Zahnbürste und eines geliehenen Schraubenziehers einen mehrere Zentimeter großen Klumpen aus Haaren herausgefischt, der ihren Abfluss verstopft hatte. Noch angeekelter war sie, als ihr bewusst wurde, dass ein Teil dieser Haare wahrscheinlich nicht ihre eigenen waren, sondern sich im Laufe vieler Jahre angesammelt hatten. Sie trug den Haarklumpen mit ausgestrecktem Arm zum
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