Die Springflut: Roman (German Edition)
Namen. Die Schaumbuchten, an der Nordwestspitze, wie das klang. Die Schaumbuchten! Und nicht weit davon, zumindest auf der Karte, Hasslevikarna.
Ihr eigentliches Ziel.
Der Tatort.
Denn darum ging es bei dieser Reise. Den Tatort aufzusuchen und zu inspizieren, wie es an ihm aussah.
Eine Touristin auf den Spuren eines Mordes?
Okay, dann war sie das eben, aber sie wollte einfach zu diesem Ufer, zu dem Ort, an dem eine einsame junge Frau eingegraben und ertränkt worden war.
Mit einem Kind im Bauch.
Olivia ließ die Karte auf ihre Brust sinken und ließ sich von ihrer Fantasie leiten, glitt zu der Bucht und dem Ufer, dem Wasser, der Ebbe, der Dunkelheit, und zu der nackten jungen Frau im Schlick und dem kleinen Jungen irgendwo in der Dunkelheit, und schließlich zu den Tätern. Drei sollten es laut Zeugenaussage des Jungen gewesen sein, aber wie sicher konnte man sich da eigentlich sein? Es war dunkel, schrecklich und weit weg gewesen, woher wollte man wissen, dass der Junge richtig beobachtet hatte? Ein verängstigter Neunjähriger mitten in der Nacht? Oder wusste man es gar nicht und war nur einfach davon ausgegangen, dass er richtig gesehen hatte? Oder hatte man seine Angabe akzeptiert, weil es keine anderen Hinweise gab? Und wenn es nun fünf gewesen waren? Eine kleine Sekte?
Schon war sie wieder an dem Punkt.
Das war nicht besonders konstruktiv.
Sie stand auf und spürte, dass die Zeit reif war.
Sie würde sich als Mordtouristin betätigen.
Abgesehen davon, dass es schon jetzt, am Nachmittag, regnete, traf das, was Betty Nordeman über das Wetter gesagt hatte, durchaus zu. Der Seewind hatte weiter aufgefrischt, und die Temperatur war bedenklich gefallen.
Es war ein richtiges Mistwetter.
Als sie aufbrechen wollte, bekam Olivia kaum die Tür auf, die hinter ihr von alleine zuknallte. Ihr zusätzlicher Pullover half ein wenig, aber der Wind zerrte so an ihren Haaren, dass sie kaum etwas sah, außerdem goss es in Strömen. Warum habe ich keine Regenjacke mitgenommen?! Wie amateurhaft darf man eigentlich sein?! Landratte, hätte Betty Nordeman geschimpft. Olivia warf einen Blick zu Axels Haus hinauf.
Nein, das ging nun wirklich zu weit.
Sie entschied sich für einen Weg, der in den finsteren und sehr wildwüchsigen Wald hineinführte, in dem seit Jahrzehnten kein Holz mehr geschlagen worden war. Harte, trockene, ineinander verkeilte und fast schwarze Äste, hier und da unterbrochen von rostigen Weidezäunen.
Aber sie folgte dem Pfad, was einigermaßen gut ging. Glücklicherweise war der Wind im Wald nicht so stark, es regnete nur. Anfangs hatte sie sich ihre Karte schützend über den Kopf gehalten, bis ihr klar geworden war, dass dies eine ziemlich bescheuerte Idee war, da sie nur mit der Karte eine Chance haben würde, den richtigen Weg zu finden.
Als Erstes wollte sie zu dem Haus des kleinen Jungen. Ove Gardman. Betty hatte gesagt, dass es im Wald liege, was Olivia allerdings allmählich bezweifelte. Hier gab es doch nur undurchdringliche Büsche und dunkle, umgestürzte Bäume und Zäune.
Plötzlich tauchte es vor ihr auf.
Ein einfaches schwarzes Holzhaus. Zwei Stockwerke, mit ten im Wald, auf einer seltsamen, kleinen Lichtung. Mit einer steilen Böschung auf der Rückseite und keinem Garten. Sie betrachtete das Gebäude. Es sah verlassen und ein wenig gespenstisch aus. Zumindest in diesem Moment, bei aufkommendem Sturm und zunehmender Dunkelheit. Sie schauderte kurz. Warum hatte sie das Haus sehen wollen? Sie wusste doch, dass der Junge, oder besser gesagt der Mann, der heute 32 Jahre alt war, nicht zu Hause war. Das hatte Betty Nordeman ihr doch schon gesagt. Sie schüttelte kurz den Kopf, zog ihr Handy heraus und machte ein paar Fotos von dem Haus. Vielleicht konnte sie die in ihren Bericht einbauen.
Ove Gardmans Haus.
Sie nahm sich vor, ihn anzurufen, sobald sie wieder in ihrer Hütte sein würde.
Olivia benötigte fast eine halbe Stunde, um zu den Schaum buchten zu gelangen. Einen Ort mit diesem Namen musste sie sich einfach ansehen, und sei es auch nur, um bei passender Gelegenheit eine Bemerkung dazu fallen lassen zu können: »Ist von euch schon einmal jemand bei den Schaumbuchten gewesen?«
Jetzt war sie fast dort und begriff, wovor Betty Nordeman sie gewarnt hatte. Vor ihr lag das offene Meer. Der Regen peitschte aus schwarzen Wolken herab. Der Wind pfiff um die Felsen. Die riesigen Wellen der Nordsee wurden gegen die Klippen getrieben und aufs Land geworfen. Wie weit, ließ sich
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