Die Springflut: Roman (German Edition)
stolperte über Steine, wurde ohne Vorwarnung von Ästen im Gesicht gerammt, rutschte in Felsspalten und hörte Geräusche. Das Jaulen des Windes machte ihr genauso wenig Angst wie das tosende Meer ringsum, bei beidem wusste sie zumindest, was es war. Aber die anderen Geräusche? Dieses plötzliche dumpfe Röhren, das aus der Dunkelheit kam. Waren das Schafe? So hörten sich doch keine Schafe an? Und dann diese dünnen Schreie, die sie gerade noch zwischen den Bäumen gehört hatte, woher kamen die? Es waren doch keine Kinder unterwegs?! Plötzlich hörte sie sie wieder und näher den Schrei und danach noch einen. Sie presste sich gegen einen Baumstamm und starrte in die Dunkelheit hinaus. Waren das Augen dort hinten? Zwei gelbe Augen? Waren das Waldkäuze? Gab es auf Nordkoster Waldkäuze?
Dann sah sie den Schatten.
Ein ferner Blitz warf einen Lichtstrahl in den Wald und enthüllte einen Schatten, der nur wenige Meter entfernt zwischen den Bäumen vorüberglitt.
Glaubte sie. Und bekam panische Angst.
Das Licht erlosch so schnell, wie es gekommen war, und es wurde wieder dunkel. Sie wusste nicht, was sie zwischen den Bäumen gesehen hatte.
Einen Menschen?
*
Der Mann, der seinen Trolley durch den dichten Wald trug, war eindeutig ein Mensch, ein ausgesprochen zielstrebiger Mensch. Wegen des Regens fielen ihm seine blonden Haare in nassen Strähnen ins Gesicht, aber das machte ihm nichts aus. Er war schon in weitaus schlechterem Wetter als diesem unterwegs gewesen. An anderen Orten auf der Erde, mit vollkommen anderen und in seinen Augen immer unangenehmeren Aufgaben. Er verfügte über ein gewisses Training. Ob es ihm auch diesmal helfen würde, wusste er nicht.
Bei der Aufgabe, die vor ihm lag, nutzten ihm seine Erfahrungen nichts.
*
Sie hatte sie zwar nur auf ihrer Karte und auf Google Earth gesehen, aber da die Regenwolken sich plötzlich entschlos sen hatten, Richtung Festland abzuziehen, und in einer Lücke einen kalten Mond herauslugen ließen, erkannte Olivia sie wieder.
Die Bucht. Hasslevikarna.
Sie war schon eine ganze Weile ziellos umhergeirrt, und ihre Kleider waren immer noch nass. Die Wunde an ihrer Stirn blutete zwar nicht mehr, aber sie zitterte am ganzen Leib, und nun hatte es sie an den Ort verschlagen, zu dem sie vor einer halben Ewigkeit bereits unterwegs gewesen war.
Jetzt zitterte sie zudem aus anderen Gründen.
Das seltsam blaue Licht des toten Himmelskörpers über ihr beschwor rund um die Bucht eine ganz eigene Atmosphäre herauf. Außerdem war offenbar Ebbe. Das Ufer schien kein Ende zu nehmen. Es begann bei den Dünen und erstreckte sich bis weit ins Meer hinaus.
Sie erreichte das Ufer am Ende der langgestreckten Bucht, setzte sich auf einen großen Stein und verfiel zitternd in eine seltsam hypnotische Stimmung.
Hier war der grausame Mord also geschehen?
Hier war das Ufer, der Ort, an dem man die nackte Frau eingegraben hatte.
Sie strich mit der Hand über die Felsen vor sich.
Wo hatte der Junge gehockt, als er es beobachtet hatte? Wo sie gerade saß oder am anderen Ende des langen Uferstreifens? An dem man andere Felsen sah. Sie stand auf und schaute zur anderen Seite hinüber. Da sah sie ihn.
Den Mann.
Er kam in der Ferne aus dem Wald und hatte einen … was war das? Einen Trolley dabei? Olivia hockte sich hinter den Stein und sah, dass der Mann den Koffer losließ und über das Ufer zum Meer ging. Langsam ging er immer weiter hinaus, bis er weit draußen plötzlich anhielt, vollkommen regungslos stehen blieb und zum Mond hochblickte … und danach auf den Grund hinab und wieder hoch. Der Wind zerrte an seinen Haaren und seiner Jacke. Auf einmal ging er in die Hocke und senkte den Kopf wie zum Gebet. Olivia presste ihre geballten Fäuste gegen den Mund. Was trieb dieser Mensch da? Gerade dort. Auf halbem Weg zum Meer hinaus und ausgerechnet bei Ebbe und Vollmond?
Wer war er?
War er verrückt?
Wie lange der Mann da draußen stehen blieb, ließ sich schwer schätzen, vielleicht drei Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde. Sie wusste es nicht. Jedenfalls drehte er sich schließlich um und kehrte genauso langsam zu seinem Trolley zurück, drehte sich ein letztes Mal um, blickte aufs Meer hinaus und verschwand anschließend im Wald.
Olivia blieb so lange in der Hocke, bis sie sicher sein konnte, dass der Mann einen gewissen Vorsprung hatte. Wenn er im Wald nicht stehen geblieben war.
*
Das war er nicht. Stattdessen hatte er sich zu seiner zweiten Station begeben.
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