Die Springflut: Roman (German Edition)
nicht schätzen.
Sie hockte sich hinter einen Felsen, blickte aufs Meer hinaus und glaubte, gut geschützt zu stehen, bis plötzlich eine gigantische Welle heranrollte, die bis zu ihrem Felsen hochschlug und sich um ihre Beine schloss. Als sie den kalten Sog spürte, der ihren Körper packte, geriet sie in Panik und schrie auf.
Nur weil sie in eine Felsspalte fiel, wurde sie nicht ins Meer gesogen.
Aber das begriff sie erst viel später.
Vorher lief sie nur so schnell sie konnte landeinwärts.
Sie rannte immer weiter, bis sie stolperte und auf einem flachen Stein oder einer Ansammlung flacher Steine der Länge nach hinschlug. Keuchend und mit einer blutenden Wunde an der Stirn von ihrem Sturz in die Felsspalte presste sie sich auf den Boden, auf Mutter Erde.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder umdrehte, zum tosenden Meer zurückschaute und erkannte, wie idiotisch sie sich verhalten hatte.
Daraufhin begann sie, durchnässt zu zittern.
*
Für einen Posaunenabend mit dem Hansdampf war es in dem ansonsten so renommierten Restaurant Strandkanten relativ leer.
Vielleicht aber auch gerade deswegen. An den Tischen saßen einige Inselbewohner mit Biergläsern vor sich, in einer Ecke stand der Hansdampf mit seiner Posaune, und schließlich war da noch Dan Nilsson.
Er saß an einem Tisch mit Blick aufs Meer. Der Wind peitschte Regen gegen die Scheibe. Von der Fähre aus war er auf direktem Weg hierher gegangen, allerdings nicht, weil er hungrig oder durstig gewesen wäre, sondern um dem Wetter zu entkommen.
Und um Kraft zu schöpfen.
Alle Kraft, die er aufbringen konnte.
Ihm war bewusst, dass es ein winziges Restrisiko gab, erkannt zu werden, da er vor vielen, vielen Jahren ein Sommerhaus auf der Insel besessen hatte. Aber das war ein Risiko, das er eingehen musste.
Jetzt saß er mit einem Bier vor sich in dem Restaurant. Eine der Kellnerinnen flüsterte dem Posaunisten in einer Pause zu, der Typ am Fenster sehe aus wie ein Polizist, und der Hansdampf erwiderte daraufhin, dass ihm das Gesicht des Mannes irgendwie bekannt vorkomme. Diesen Wortwechsel hörte Nilsson jedoch nicht, da er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Weiter nördlich auf der Insel, wo er früher schon einmal gewesen war.
An einem Ort, den er an diesem Abend erneut besuchen würde.
Und danach einen weiteren Ort.
Und wenn das abgehakt war, würde er fertig sein.
Oder im Gegenteil erst recht weitermachen müssen.
Das wusste er noch nicht.
Genau das wollte er herausfinden.
*
Nicht genug, dass sie völlig durchnässt war, blutete und halb unter Schock stand, zu allem Überfluss war sie auch noch das Opfer einer mittleren Katastrophe geworden. Sie hatte ihre Karte verloren. Oder die Riesenwelle hatte sie weggespült. Jedenfalls hatte sie keine Karte mehr und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Nordkoster war bei Sommersonne und Juniwärme keine große Insel, aber bei Sturmböen, Platzregen und einsetzender Dunkelheit war sie groß genug, um sich auf ihr zu verlaufen.
Wenn man eine Landratte war.
Voller Wäldchen und Heideflächen und plötzlich auftauchender Felsen war sie.
Vor allem, wenn man wie Olivia zum ersten Mal auf Nordkoster war.
Sie war mitten im Nirgendwo und hatte vor sich den finsteren Wald und hinter sich die schlüpfrigen Felsen. Und da ihr sonst so ausgezeichnetes Handy einen Schwall Meerwasser abbekommen und den Dienst eingestellt hatte, blieb ihr keine andere Wahl, als in die eine oder andere Richtung zu gehen.
Also ging sie, zitternd, in die eine oder andere Richtung.
Mehrere Male.
*
Dan Nilsson wusste genau, wie er zu gehen hatte, auch wenn es wegen des Unwetters schon ziemlich dunkel war. Er benötigte keine Karte, zog seinen Trolley über den Kiesweg, bog ins Inselinnere ab und nahm den Weg, der wie erwartet vor ihm auftauchte und ihn zu dem Ort führen würde, an den er gelangen wollte.
Den ersten Ort.
*
Normalerweise hatte sie keine Angst im Dunkeln. Schon als kleines Kind hatte sie in ihrem Elternhaus in Rotebro genau wie auf dem Land stets alleine geschlafen. Im Gegenteil, wenn die Dunkelheit sie umschloss und alle Geräusche verebbten, empfand sie immer eine innere Ruhe. Und sie war allein. Einsam.
Das war sie jetzt auch, allerdings unter etwas anderen Vorzeichen. Jetzt war sie in einer Umgebung allein, die sie nicht kannte. Es blitzte, donnerte und regnete in Strömen. Sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Es gab nur abwechselnd Felsen und Bäume. Sie glitt auf Moos aus,
Weitere Kostenlose Bücher