Die Springflut: Roman (German Edition)
von Polizisten und anderen überschwemmt wurde.
»Dann haben sie jeden Einzelnen auf der Insel verhört, und ich habe ihnen gesagt, was meiner Meinung nach passiert ist.«
»Und was ist Ihrer Meinung nach passiert?«
»Satanisten. Rassisten. Gangs. Es war mit Sicherheit irgendeine Gruppe, das habe ich ihnen gesagt.«
»Fahrradfahrer?«
Die Frage war scherzhaft gemeint, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis bei Betty Nordeman der Groschen fiel. Machte sie sich etwa über eine alte Inselbewohnerin lustig? Aber dann lachte sie. Großstadthumor. Den musste man wohl nehmen, wie er war.
»Da vorne sind unsere Ferienhütten!«
Betty zeigte auf eine Reihe gelber Holzhütten, die ebenfalls sehr gepflegt aussahen. Pünktlich zum Saisonbeginn frisch gestrichen standen sie in Hufeisenform am Rande einer schönen Wiese.
Gleich hinter den Häuschen begann ein dunkler Wald.
»Heute kümmert sich mein Sohn Axel um alles. Bei ihm haben Sie gebucht.«
Sie näherten sich den Hütten, und Betty Nordeman er griff erneut das Wort. Ihre Hand zeigte von Hütte zu Hütte.
»Ja, hier haben schon die unterschiedlichsten Leute gewohnt, das kann ich Ihnen sagen …«
Olivia betrachtete die Häuschen. Alle waren mit einer Messingziffer nummeriert, die frisch poliert wirkte. Bei den Nordemans herrschte vorbildliche Ordnung.
»Wissen Sie noch, wer hier gewohnt hat, als die Frau ermordet wurde?
Betty Nordemans Mundwinkel zuckten.
»Sie lassen nicht locker. Aber ich erinnere mich tatsächlich noch, zumindest an einen Teil von ihnen.«
Betty Nordeman zeigte auf die erste Hütte in der Reihe.
»Da drüben haben zum Beispiel zwei Homophile gewohnt, damals war so was ja noch verpönt, es war nicht wie heute, wo sich alle naslang einer outet. Sie haben gesagt, sie wollten Vögel beobachten, aber soweit ich mich erinnere, haben die nur sich selbst beobachtet.«
Homophile, dachte Olivia. Den Ausdruck hatte sie bisher im Grunde nie gehört. Hätten zwei Homophile die Frau am Ufer töten können? Wenn sie denn wirklich Homophile gewesen waren, vielleicht war das ja nur eine Tarnung gewesen?
»In der Zwei wohnte eine Familie mit Kindern. Ja, genau. Mutter und Vater mit zwei Kindern, die überall herumgelaufen sind und die Schafe auf den Weiden erschreckt haben. Einer ihrer Sprösslinge hat sich dann am Weidezaun verletzt, und die Eltern haben sich furchtbar aufgeregt, weil sie fanden, dass der Bauer verantwortungslos war. Manche Sünden bestraft der Liebe Gott sofort, habe ich persönlich gedacht. Die Vier stand leer, aber in der Fünf wohnte ein Türke. Er ist lange geblieben, ein paar Wochen, hat immer einen roten Fez getragen, hatte eine Hasenscharte und lispelte wie verrückt. Aber ein sehr netter und höflicher Mann. Einmal hat er mir sogar einen Handkuss gegeben.«
Bei der Erinnerung musste Betty Nordeman lachen. Olivias Gedanken kreisten um den höflichen Türken. Die Frau hatte dunkle Haare gehabt, konnte sie eine Türkin gewesen sein? Oder eine Kurdin? Ein Ehrenmord? In den Zeitungen hatte gestanden, dass sie möglicherweise aus Lateinamerika stammte, aber wie war man eigentlich zu dieser Vermutung gelangt? Betty zeigte auf Hütte Nummer Sechs.
»Und da haben leider zwei Fixer gewohnt, aber mit so was will ich nichts zu tun haben, also habe ich sie rausgeworfen. Als sie weg waren, musste ich die ganze Hütte putzen. Pfui Teufel! Im Papierkorb habe ich gebrauchte Spritzen und blutige Servietten gefunden.«
Drogen!? Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Frau Rohypnol im Blut hatte. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn Betty Nordeman sprach schon weiter.
»Obwohl, wenn ich es recht bedenke, habe ich sie schon vor dem Mord raus… ja, genau, so war es, denn dann haben die zwei ein Boot geklaut und sind zum Festland gefahren. Wenn Sie mich fragen, um sich neuen Stoff zu besorgen.«
Damit löste sich diese Spur in Luft auf.
»Was für ein fantastisches Gedächtnis Sie haben!«, sagte Olivia.
Betty holte Luft und genoss das Lob sichtlich.
»Nun, das habe ich vielleicht, aber wir führen natürlich auch Buch.«
»Aber trotzdem!«
»Na ja, ich interessiere mich eben für Menschen. So bin ich einfach.«
Betty Nordeman sah Olivia selbstzufrieden an und zeigte auf eine Hütte ganz außen mit der Ziffer Zehn.
»Und da hat dieser Vamp aus Stockholm gewohnt. Anfangs hat sie da übernachtet und später auf einer norwegischen Yacht im Hafen. Eine richtige Schlampe war das, unten
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