Die Springflut: Roman (German Edition)
dass der Posten eines Vorstands in einem Privatunternehmen, das in den Medien noch dazu häufig Kritik einstecken musste, ein wenig heikel wurde.
Also erklärte er seinen Rücktritt.
Heute erledigte er die Dinge, die getan werden mussten, unter vier Augen. So war es weniger heikel.
Nach außen waren sie nur gute Freunde.
Bisher jedenfalls.
Erik hatte keine Ahnung von dem Gespräch und seiner Herkunft. Wenn er davon erführe, würde seine Musketiertreue auf eine harte Probe gestellt werden.
Auch auf einer politischen Ebene.
*
Es war kurz vor sieben. Jelle hatte in vier Stunden lediglich drei Zeitungen abgesetzt. Das war nicht viel. Einhundertzwanzig Mäuse, von denen sechzig ihm gehörten, was einem Stundenlohn von fünfzehn Kronen entsprach. Aber für eine Dose Fischbällchen würde es reichen. Im Grunde mochte er die Fischbällchen gar nicht, es ging ihm ausschließlich um die Hummersauce, in der sie schwammen. Er interessierte sich generell nicht sonderlich für Essen, das hatte er selbst zu Zeiten nicht getan, als er sich das eine oder andere hätte leisten können. Essen war für ihn Nahrungsaufnahme. Gab es keine richtige Mahlzeit, musste man sich die Nahrung eben auf andere Art beschaffen. Das ging auch. Sein größtes Problem war nicht die Beschaffung von Essbarem, sondern die Frage, wo er schlafen sollte.
Er hatte natürlich seinen Holzverschlag am Järlasjön, aber mittlerweile ging der ihm mächtig auf die Nerven. In den Wänden hatte sich etwas festgesetzt, was ihn bedrängte, sobald er den Raum betrat und es ihm immer schwerer machte, dort Schlaf zu finden. Diese Wände haben zu lange zu viele Schreie gehört, dachte er, es wird Zeit umzuziehen.
Aber was hieß hier »umziehen«. Das tat man von einer Wohnung zu einer anderen, man zog aus einem schmucklosen Bretterverschlag ohne Möbel nicht aus, sondern haute dort einfach ab.
Er wollte abhauen.
Jetzt dachte er darüber nach, wohin die Reise gehen sollte. Er hatte schon überall in der Stadt geschlafen, gelegentlich auch in einem Obdachlosenheim, aber das war nichts für ihn. Streit und Suff und Drogen und Personal, das einen spätestens um acht Uhr morgens vor die Tür setzte. Das kam für ihn nicht mehr in Frage. Er musste etwas anderes finden.
»Hallo, Jelle! Hast du dich mit einer Handgranate gekämmt?«
Die einäugige Vera kam breit grinsend auf ihn zu und zeigte auf Jelles zerzauste Haare. Sie hatte ihre dreißig Zeitungen am Ring verkauft und war jetzt zu der Stelle vor der Markthalle am Medborgarplatsen gekommen, die Jelle ein paar Tage zuvor für sich beansprucht hatte. Benseman würde ja ohnehin nicht kommen. Er hatte geglaubt, es sei eine gute Verkaufsstelle, aber die drei Zeitungen am heutigen Tag widersprachen dieser Einschätzung.
»Hallo«, sagte er.
»Wie läuft’s denn so?«
»Geht so … drei Zeitungen.«
»Ich habe dreißig verkauft.«
»Toll.«
»Wie lange willst du hier noch stehen?«
»Weiß nicht, ich hab noch ein paar.«
»Die könnte ich dir abkaufen.«
Die Verkäufer kauften sich des Öfteren gegenseitig Exemplare ab, um einander zu helfen. Sie hofften, selbst mehr Glück zu haben als der ursprüngliche Besitzer. Veras Angebot war also nichts Ungewöhnliches.
»Danke, aber ich …«
»Dafür bist du ein bisschen zu stolz, was?«
»Schon möglich.«
Vera lachte kurz und schob einen Arm unter Jelles.
»Von Stolz wird man aber nicht satt.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Du bist kalt.«
Vera hatte Jelles Hand in ihre genommen. Sie war wirklich ziemlich kalt, was seltsam war, da es mit Sicherheit mehr als zwanzig Grad warm war. Sie hätte nicht kalt sein dürfen.
»Hast du letzte Nacht wieder in dieser Bruchbude geschlafen?«
»Ja.«
»Wie lange hältst du das noch durch?«
»Weiß nicht …«
Es wurde still. Vera betrachtete Jelles Gesicht, und Jelle musterte die Fassade der Markthalle, und so wurde aus den Sekunden eine Minute. Dann sah Jelle Vera an.
»Ist es okay, wenn ich …«
»Ja.«
Mehr sagten sie nicht. Mehr musste nicht gesagt werden. Jelle griff nach seinem abgewetzten, kleinen Rucksack und stopfte seinen dünnen Zeitungsstapel hinein. Dann gingen sie Seite an Seite, jeder in Gedanken bereits unterwegs zu Veras Wohnwagen und der Frage, wie es dort werden würde.
Und wenn man so in Gedanken versunken ist, bemerkt man nicht, dass zwei junge Männer in dunklen Kapuzenjacken im nahe gelegenen Park stehen und einen beobachten. Man nimmt nicht einmal wahr, dass sie in dieselbe Richtung
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