Die Springflut: Roman (German Edition)
gehen wie man selbst.
*
Das rote Reihenhaus im Vorort Rotebro war Mitte der sechziger Jahre gebaut worden. Die Rönnings waren die bislang zweiten Besitzer. Es war ein hübsches und gepflegtes Haus in einem ruhigen Straßenabschnitt in einer Siedlung, in der alle Häuser gleich aussahen. Hier war Olivia als Einzelkind aufgewachsen, aber das ganze Viertel war damals voller Spielkameraden gewesen. Heute waren die meisten von ihnen erwachsen und wohnten woanders. In den Häusern lebten mittlerweile vor allem Eltern ohne Kinder.
Wie Maria.
Als Olivia zur Garagenauffahrt kam, sah sie ihre Mutter durchs Küchenfenster. Die Strafverteidigerin mit der spanischen Herkunft, die schlagfertige und stets adrette Frau, die ihr Vater über alles in der Welt geliebt hatte.
Und sie ihn, wenn Olivia es recht sah. In ihrem Elternhaus hatte eine ruhige und abgeklärte Atmosphäre geherrscht, es hatte nur sehr selten Streit gegeben. Argumente, gegensätzliche Meinungen, endlose Diskussionen, das ja, aber niemals Aggressivität. Niemals etwas, was ein Kind hätte belasten können.
Sie hatte sich zu Hause immer gut behütet gefühlt.
Und sie hatte immer das Gefühl gehabt, gesehen zu werden. Zumindest von Arne oder vor allem von ihm. Maria war nun einmal, wie sie war. Eher keine Schmusemutter, aber dafür immer zur Stelle, wenn wirklich Not am Mann war. Zum Beispiel, wenn man krank war wie jetzt. Dann war ihre Mutter mit Fürsorglichkeit und Rezepten und Ermahnungen für sie da.
Was Vor- und Nachteile hatte.
»Was gibt es zu essen?«
»Knoblauchhühnchen spezial.«
»Und was ist daran spezial?«
»Das, was nicht im Rezept steht. Trink das hier«, sagte Maria.
»Was ist das?«
»Heißes Wasser, Ingwer, ein bisschen Honig und zwei Tropfen Geheimnis.«
Olivia lächelte und trank. Was war das Geheimnis? Roch sie in ihrer laufenden Nase einen Hauch von Minze? Vielleicht. Sie spürte, dass der sanfte, warme Trank von ihrer rauen Kehle als sehr angenehm empfunden wurde, und dachte: meine Mama Maria.
Sie hatten sich in der blitzsauberen Küche an den weißen Esstisch gesetzt. Manchmal wunderte sich Olivia darüber, wie sehr sich ihre Mutter das nordische Einrichtungsideal zu eigen gemacht hatte. Es gab nicht einen Hauch von leuchtenden Farben. Alles war weiß und in gedeckten Farbtönen gehalten. Als Teenager hatte sie dagegen revoltiert und durchgesetzt, dass die Wände ihres Zimmers leuchtend rot gestrichen wurden. Mittlerweile hatten sie einen wesentlich dezenteren beigen Farbton bekommen.
»Und, wie war es auf Nordkoster?«, fragte Maria.
Olivia erzählte ihr eine stark zensierte Version ihres Aufenthalts auf der Insel, die im Grunde alles Wesentliche ausschloss. Danach aßen sie und tranken guten Rotwein. Fieber und Rotwein?, hatte Olivia überlegt, als Maria einschenkte. Aber so dachte Maria nicht. Ein paar Schlucke Rotwein konnten in ihren Augen niemals schaden.
»Habt ihr euch mal über diesen Mord auf Nordkoster unterhalten?«, fragte Olivia.
»Ich kann mich nicht erinnern, aber du warst damals ja auch gerade erst auf die Welt gekommen, da wurde nicht viel diskutiert.«
Klang sie ein bisschen enttäuscht? Nein, schäm dich, Olivia, reiß dich zusammen!
»Willst du den ganzen Sommer an der Sache arbeiten?«, erkundigte sich Maria.
Machte sie sich Sorgen wegen des Sommerhauses? Wegen Tesakrepp und Farbe abkratzen?
»Ich glaube nicht, ich werde nur einigen Dingen nachgehen und anschließend ein paar Seiten darüber schreiben.«
»Und was für Dingen willst du nachgehen?«
Seit Arnes Tod hatte Maria nur noch selten die Chance, bei einem guten Glas Wein am Küchentisch zu sitzen und Kriminalfälle zu diskutieren. So gut wie nie. Also ergriff sie ihre Chance.
»Als der Mord geschah, befand sich eine Frau namens Jackie Berglund auf der Insel, auf die ich ein bisschen neugierig geworden bin.«
»Und warum?«
»Weil sie und ein paar Norweger kurz nach dem Mord auf einem Boot von der Insel abgehauen sind und ich finde, dass die Vernehmungen mit ihnen ziemlich oberflächlich geführt wurden.«
»Du glaubst, dass sie das Opfer gekannt haben?«
»Wäre möglich.«
»Vielleicht war sie ja von Anfang an mit auf dem Boot?«
»Ja, könnte sein. Diese Jackie hat für einen Escortservice gearbeitet.«
»Aha …«
Was heißt denn hier aha, dachte Olivia. Was meint sie damit?
»Vielleicht hat das Opfer ja auch für einen Escortservice gearbeitet«, fuhr Maria fort.
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Dann solltest du
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