Die Springflut: Roman (German Edition)
die Sache endete mit Mord.
Oder … Inzwischen lief ihre fiebrige Fantasie auf Hochtouren. Oder einer der Norweger war der Vater des Kindes, und sie weigerte sich, es abtreiben zu lassen? Vielleicht hatten sie und Jackie ja schon vorher Sex mit diesen Norwegern gehabt, und das Opfer war schwanger geworden und hatte versucht, von dem Norweger Geld zu erpressen, und daraufhin ging die Sache gründlich schief, und die beiden Männer und Jackie brachten sie um?
Dann klingelte ihr Handy.
Es war ihre Mutter. Sie wollte Olivia zum Essen einladen.
»Heute Abend?«
»Ja. Hast du schon etwas vor?«
»Ich sitze gerade im Zug von Nordkoster und …«
»Wann bist du hier?«
»So gegen fünf, aber dann muss ich …«
»Sag mal, wie hörst du dich eigentlich an?! Bist du krank?«
»Ich bin ein bisschen …«
»Hast du Fieber?«
»Vielleicht, ich habe kein …«
»Ist dein Hals zugeschwollen?«
»Ein bisschen.«
Innerhalb von fünf Sekunden hatten Marias besorgte Fragen Olivia zu einer Fünfjährigen regrediert. Sie war krank, und Mama kümmerte sich um sie.
»Um wie viel Uhr?«
»Um sieben«, antwortete Maria.
*
Die Esplanade am Strandvägen war eine ausgesprochen schöne Straße. Von der Seeseite betrachtet wurde die parallel zum Ufer verlaufende Allee von einer beeindruckenden Mischung älterer Architektur gesäumt. Vor allem, wenn man den Blick auf die Dächer mit ihren vielen eigensinnigen Formationen aus Türmen, Winkeln und Stuck richtete. Der Welt wurde ein würdiges Gesicht zugewandt.
Was sich hinter diesem Gesicht verbarg, war eine ganz andere Frage.
Die Schönheit der Straße ging Bertil Magnuson jedoch sicher nicht durch den Kopf, als er am Ufer entlangging. Seine besorgte Frau hatte ihn am Nybroplan abgesetzt, nachdem er ihr mit Nachdruck versichert hatte, dass mit ihm wieder alles in Ordnung sei. Die Zeremonie und der König und die Parolen der Demonstranten vor der Handelskammer waren bloß ein bisschen zu viel für ihn gewesen.
»Es ist alles in Ordnung«, erklärte er.
»Sicher?«
»Sicher. Ich muss nur einen Vertrag durchdenken, über den wir am Mittwoch verhandeln wollen, und möchte ein wenig spazieren gehen.«
Das tat er oft, wenn er sich etwas durch den Kopf gehen lassen wollte, so dass sie ihn absetzte und heimfuhr.
Bertil Magnuson war tief erschüttert. Ihm war sofort klar gewesen, wer hinter der Aufnahme des Gesprächs steckte.
Nils Wendt.
Früher war dieser Mann ein sehr enger Freund von ihm gewesen. Ein Musketier. Einer von dreien, die in den Sechzigern in guten wie in schlechten Zeiten an der Handelshochschule zusammengehalten hatten. Der dritte war Erik Grandén gewesen, der heute als Staatssekretär im Außenministerium tätig war. Die drei hatten sich als moderne Nachfahren von Dumas’ Helden begriffen. Sie hatten sogar einen Wahlspruch gehabt: einer für alle.
Weiter hatte ihre Fantasie nicht gereicht, aber sie waren der festen Überzeugung gewesen, dass sie die Welt verblüffen würden, was ihnen zumindest teilweise auch gelungen war.
Grandén hatte sich zu einem politischen Wunderkind entwickelt und war als Sechsundzwanzigjähriger Vorsitzender im Jugendverband der Konservativen Partei geworden. Er selbst und Wendt hatten MWM gegründet – Magnuson Wendt Mining. Die Firma war rasch zu einem kühnen und erfolgreichen Bergbauunternehmen im In- und Ausland aufgestiegen.
Bis die Dinge etwas schlechter liefen.
Nicht für das Unternehmen, das sowohl global betrachtet als auch ökonomisch gesehen wuchs und nach ein paar Jahren an der Börse notiert wurde. Sondern für Wendt. Oder vielmehr für die Beziehung von Bertil Magnuson und Nils Wendt. Ihr Verhältnis hatte sich zusehends verschlechtert, und das Ganze hatte damit geendet, dass Wendt von der Bildfläche verschwunden war. Daraufhin wurde Wendt durch World ersetzt – Magnuson World Mining.
Und nun war Wendt wieder aufgetaucht. Über den Umweg eines sehr unangenehmen Gesprächs zwischen ihm selbst und Bertil Magnuson. Einem Gespräch, von dessen Aufnahme er keine Ahnung gehabt, deren Bedeutung er jedoch augenblicklich erkannt hatte. Falls sein Inhalt publik werden sollte, würde Bertil Magnusons Zeit als Wirtschaftsmagnat auf allen Ebenen vorbei sein.
Er warf einen flüchtigen Blick zur Grevgatan hinauf. Dort war er in einem untadeligen, bürgerlichen Elternhaus geboren worden. In seinem Kinderzimmer hatte er die Glocken der Hedvig-Eleonora-Kirche hören können. Er stammte aus einer Industriellenfamilie. Sein Vater
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