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Die Springflut: Roman (German Edition)

Die Springflut: Roman (German Edition)

Titel: Die Springflut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cilla Börjlind , Rolf Börjlind
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trug stets gut geschnittene Kleider, immer in gedeckten Farben und maßgeschneidert. Von fern sah es aus, als wären sie direkt auf seinen Körper gemalt worden.
    »Hallo!«
    Das Mädchen, das Abbas schon eine ganze Weile gemustert hatte, war blond, einigermaßen nüchtern und ein wenig einsam. Er sah auch ein wenig einsam aus, so dass sie dachte, sie könnten gemeinsam einsam sein.
    »Wie geht’s?«
    Abbas sah das junge Mädchen von neunzehn oder zwanzig Jahren an.
    »Ich bin nicht hier«, antwortete er.
    »Bitte?«
    »Ich bin nicht hier.«
    »Du bist nicht hier?«
    »Nein.«
    »Es sieht aber so aus, als wärst du hier.«
    Das Mädchen lächelte unsicher, und Abbas erwiderte ihr Lächeln. Seine Zähne wirkten in dem braunen Gesicht besonders weiß, seine leise Stimme übertönte seltsamerweise mühelos die laute Barmusik.
    »Das glaubst du nur«, erklärte er.
    An diesem Punkt traf das Mädchen eine schnelle Entscheidung. Schwierige Typen waren nicht ihr Ding, und der hier war definitiv schwierig. Der ist auf irgendeinem Trip, dachte sie, nickte ihm kurz zu und kehrte zu ihrer einsamen Ecke zurück.
    Abbas schaute ihr hinterher und dachte an Jolene Olsäter. Sie war im selben Alter und hatte das Down-Syndrom.
    Jolene hätte haargenau verstanden, was er gemeint hatte.
    *
    In dem engen Raum im Polizeipräsidium an der Bergsgatan erlosch die Projektorlampe. Rune Forss schaltete die Deckenlampen ein. Seine MO -Gruppe und er hatten sich soeben einen überspielten Handyfilm aus dem Internet angesehen. Der Film hatte die Misshandlung Vera Larssons in ihrem Wohnwagen gezeigt.
    »Keine Bilder von den Gesichtern der Täter.«
    »Nein.«
    »Aber der Anfang des Films war nicht uninteressant.«
    »Du meinst, als sie Sex hatten?«
    »Ja.«
    Mit Janne Klinga waren sie zu viert im Raum. Als die Handykamera durch das ovale Fenster das Wageninnere gefilmt und einen nackten Mann auf einer Frau gezeigt hatte, die aller Wahrscheinlichkeit nach Vera Larsson gewesen war, hatten sie alle ihre Aufmerksamkeit geschärft. Das Gesicht des Mannes war bei einer schnellen, verschwommenen Drehung kurz zu sehen gewesen. Aber es war zu schnell gegangen, um seine Gesichtszüge erkennen zu können.
    »Wir müssen diesen Mann finden.«
    Die anderen stimmten Rune Forss zu. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich schien, dass dieser Mann Vera Larsson misshandelt hatte, war er für ihre Ermittlungen trotzdem hochinteressant. Er musste sich ungefähr zur Tatzeit am Tatort befunden haben.
    »Schickt den Film unseren Technikern und bittet sie, sein Gesicht zu bearbeiten, vielleicht bekommen wir ein schärferes Bild.«
    »Glaubst du, dass der Typ auch ein Obdachloser ist?«, erkundigte sich Klinga.
    »Keine Ahnung.«
    »Hat Vera Larsson als Prostituierte gearbeitet?«
    »Nicht dass wir wüssten«, antwortete Forss, »aber bei diesen Gestalten weiß man ja nie.«
    *
    Aus dem Blickwinkel einer Arztserie war alles passend choreographiert. Das grüngelbe Licht, die Apparate, das um den Körper versammelte Ärzteteam, die Schwestern im Hintergrund, der ruhige Austausch medizinischer Fachbegriffe, das Anreichen kleinerer und größerer Instrumente zwischen Händen in Latexhandschuhen.
    Eine beliebige Operation.
    Von innen, aus der Perspektive der Patientin betrachtet, sah die Sache ein wenig anders aus. Erstens gab es keinen Ausblick, da ihre Augen geschlossen waren. Zweitens gab es keine Wahrnehmung, da die Patientin unter Narkose stand.
    Drittens gab es jedoch, worüber wir so wenig wissen, ein Wahrnehmen von Stimmen und ein inneres Kaleidoskop von Bildern, einen Strudel aus Erinnerungen, der sich in langsamen Überlappungen im tiefsten Inneren bewegt und von dem niemand weiß, wo er ist, bevor er einmal dort war.
    An diesem Ort war Vera.
    Während sich die Außenwelt mit ihrem Körper und ihren Organen und allem, was verletzt worden war, beschäftigte, war Vera an einem ganz anderen Ort.
    Allein.
    Mit einem Schlüsselbund, einem erhängten Körper und einem kreidebleichen Kind, das mit einem Stift aus Trauer auf seine Hand schrieb … »lief alles darauf hinaus« … »lief alles darauf hinaus« …
    Draußen, weit draußen, lag das große Söder-Krankenhaus wie ein gigantischer Bunker aus skelettweißem Stein mit seinen Reihen hell erleuchteter Fenster. In der Nähe des Parkplatzes stand in der Dunkelheit ein einsamer, langhaariger Mann. Seine Augen suchten ein Fenster, auf dem sein Blick verweilen konnte.
    In dem Fenster, für das er sich schließlich

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