Die Springflut: Roman (German Edition)
Ihr mit Morphium vollgepumpter Körper hatte still unter der dünnen Decke geruht, die Hand, die er hielt, war wie eine eingeschrumpfte Vogelkralle gewesen. Dennoch hatte er es gespürt, als ihre Finger sich plötzlich ein wenig gekrümmt hatten und die Augen seiner Mutter sich einen Spaltbreit öffneten, und er hatte gehört, dass über ihre schmalen, trockenen Lippen Worte kamen. Ganz nah hatte er sich zu ihrem Gesicht gelehnt, näher als er diesem seit vielen, vielen Jahren gekommen war, und hatte gehört, was sie ihm sagte. Jedes einzelne Wort. Satz für Satz.
Dann war sie gestorben.
Und nun lag er hier und weinte.
Als der Rausch ihn allmählich in einen Nebel aus grässlichen Erinnerungen zog, ertönte sein erster Schrei, und als die Bilder aus Rauch, Feuer und einer blutigen Harpune wieder auftauchten, brüllte er los.
*
Er wechselte mühelos zwischen Französisch und Portugiesisch. Französisch sprach er in das linke Handy und Portugiesisch in das rechte. Er saß in seinem exklusiven Büro in der obersten Etage seines Firmensitzes am Sveavägen, von dem aus er auf Olof Palmes Grab hinuntersehen konnte.
Ein altes Hassobjekt in seinen Kreisen.
Nicht das Grab, sondern der Mann, der in ihm beerdigt lag.
Olof Palme.
Als ihn die Nachricht von Palmes Ermordung erreichte, hatte Bertil Magnuson mit Latte und ein paar anderen fröhlichen Herren aus den oberen Zehntausend im Nachtclub Alexandra gesessen.
»Champagner!«, hatte Latte gerufen, und Champagner hatten sie die ganze lange Nacht getrunken.
Seither waren fünfundzwanzig Jahre vergangen, und der Mord war immer noch nicht aufgeklärt worden. Das war Bertil Magnuson allerdings ziemlich egal. Er verhandelte mit dem Kongo. Ein Landbesitzer nahe Walikale hatte eine absurd hohe Entschädigung verlangt. Der portugiesische Geschäftsführer vor Ort hatte Probleme. Der französische Anwalt der Firma war der Meinung, dass sie der Forderung nachkommen sollten, aber davon wollte Bertil nichts wissen.
»Ich spreche mit dem Militärchef in Kinshasa.«
Er rief an und vereinbarte wie schon so oft einen telefonischen Termin mit einem zwielichtigen Machthaber. Widerspenstige Landbesitzer waren für Bertil Magnuson ein läppisches Problem, das sich am Ende immer lösen ließ.
Auf die sanfte oder die harte Tour.
Leider ließ sich keine dieser Touren auf sein eigentliches Problem anwenden. Das Gespräch, von dem eine Tonaufnahme existierte.
Er hatte festgestellt, dass sich Wendts Anrufe nicht zurückverfolgen ließen, so dass er nicht wusste, ob Wendt ihn aus dem Ausland anrief oder sich in Schweden aufhielt, aber er ging davon aus, dass Wendt sich früher oder später bei ihm melden würde. Waren diese Telefonate sonst nicht völlig sinnlos?
Überlegte Bertil Magnuson.
Deshalb rief er K. Sedovic an, eine sehr zuverlässige Person, und bat ihn, alle Hotels und Motels und Jugendherbergen und Hostels im Großraum Stockholm nach einem Nils Wendt abzusuchen. Für den Fall, dass er sich wirklich in Schweden aufhalten sollte. Es war ein Schuss ins Blaue, das wusste Bertil nur zu gut. Selbst wenn Wendt sich in Schweden befinden sollte, war nicht gesagt, dass er in einem Hotel oder einer ähnlichen Unterkunft wohnte. Insbesondere nicht unter seinem richtigen Namen.
Aber was sollte er sonst tun?
*
Eine schöne Frau, dachte Olivia. Sie hat sich gut gehalten, in jüngeren Jahren muss sie als Escortgirl ziemlich erfolgreich gewesen sein. Sie hat von ihrem Aussehen und ihrem Körper gelebt. Olivia spulte ein wenig vor. Sie saß mit ihrem Notebook am Küchentisch und schaute sich das Interview mit Jackie Berglund an, zu dem Eva Carlsén ihr einen Link geschickt hatte. Es war in einer Boutique im Stadtteil Östermalm geführt worden, Schräg & Schick in der Sibyllegatan. Ein typischer Laden für diese vornehme Gegend. Kokette Einrichtungsaccessoires und sündhaft teure Designermode. Eine Fassade, hatte Eva Carlsén das Geschäft genannt, eine Fassade für Jackie Berglunds andere Aktivitäten.
Red Velvet .
Das Interview war vor zwei Jahren aufgenommen worden. Jackie Berglund bezeichnete sich als Besitzerin der Boutique. Olivia suchte sie im Internet. Das Geschäft gab es noch immer unter demselben Namen und an derselben Adresse. Und mit derselben Besitzerin: Jackie Berglund.
Diese Boutique könnte einen Besuch wert sein, dachte Olivia.
Sie verfolgte das restliche Interview. Eva Carlsén hatte Jackie Berglund dazu gebracht, über ihre Vergangenheit als Escortgirl zu sprechen.
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