Die Springflut: Roman (German Edition)
entschied, ging auf einmal das Licht aus.
A m nächsten Morgen herrschte eine bedrückte Atmosphäre im Glasblåsarpark, als hätte der Wind einen Trauerflor aus Tau auf die Menschen gesenkt. Die einäugige Vera war tot. Ihre geliebte Vera war tot. Ihr Licht war als Folge innerer Verletzungen kurz nach Mitternacht erloschen. Die Ärzte hatten klinisch und professionell getan, was in ihrer Macht stand, aber als Veras Herzfrequenz zu einem dünnen Strich geworden war, hatten die Krankenschwestern den Rest übernommen.
Ad mortem.
Schweigend trafen sie einer nach dem anderen im Park ein, nickten sich kurz zu, schauderten und setzten sich auf die Parkbänke. Ein Redakteur der Obdachlosenzeitung kam zu ihnen. Er sprach einige ergreifende Worte über Wehrlosigkeit und Vera als eine Quelle menschlicher Wärme. Alle nickten und stimmten ihm zu.
Anschließend hing jeder seinen eigenen Erinnerungen an sie nach.
Ihre geliebte Vera war tot. Die Frau, die nie wirklich ins Leben gefunden hatte, die mit den Dämonen in ihrem Kopf und besudelten Kindheitserinnerungen gekämpft hatte und mit sich selbst nie im Reinen gewesen war.
Jetzt war sie tot und würde nie mehr in der untergehenden Sonne stehen und ihr heiseres Lachen hören lassen oder sich in verschlungene Argumentationen über die Verwahrlosung dessen stürzen, was sie »die Wirklichkeit der Verwirrten« genannt hatte.
Der Schneepflug war nicht mehr.
Jelle schlich sich unbemerkt in die Randzone des Parks und setzte sich auf eine ganz außen stehende Bank, wodurch er seine zwiespältigen Bedürfnisse zum Ausdruck brachte: Ich bin hier, aber gleichzeitig ein paar Meter entfernt, haltet Abstand. Er wusste nicht, warum er gekommen war, oder vielleicht doch: weil sich hier die einzigen Menschen versammelt hatten, die wussten, wer Vera Larsson war. Die erschlagene Frau aus dem nördlichen Uppland. Es gab sonst niemanden, dem sie etwas bedeutet hatte oder der um sie trauerte, nur diese verstreut auf Bänken sitzenden Menschen.
Eine Ansammlung zerlumpter Gestalten.
Und ihn.
Der mit ihr geschlafen und danach gesehen hatte, wie sie einschlief, der über ihre weißen Narben gestrichen hatte und fortgegangen war.
Wie eine feige Ratte.
Jelle stand wieder auf.
Irgendwann hatte er sich entschieden. Anfangs hatte er auf gut Glück nach einem geschützten Treppenhaus oder einem Dachboden gesucht, nach irgendeinem Ort, an dem er seine Ruhe hatte. Am Ende fiel seine Wahl dann aber doch auf den alten Holzschuppen am Järlasjön. Dort war er sicher. Dort würde ihn keiner stören.
Dort würde er sich sinnlos besaufen können.
Jelle trank sonst nie. Es war viele Jahre her, dass er einen Schnaps getrunken hatte, doch nun hatte er sich in der Zeitungsredaktion einen Hunderter gepumpt und eine Flasche Wodka und vier Dosen Bier gekauft.
Das dürfte reichen.
Er ließ sich auf den Fußboden sinken. Zwei dicke Wurzeln hatten die Bodendielen hochgedrückt, so dass ihm der modrige Geruch feuchter Erde in die Nase stieg. Er hatte braunen Karton ausgelegt und ihn an manchen Stellen mit Zeitungen bedeckt, was um diese Jahreszeit völlig ausreichte. Wenn er im Winter einschlief, kühlte er sofort aus.
Er betrachtete seine Hände. Mager, mit dünnen, langen Fingern. Sie sehen eher aus wie Krallen, dachte er, als sie sich um die erste Dose schlossen.
Und um die zweite.
Danach nahm er zusätzlich ein paar Schlucke Wodka, und als der erste Rausch einsetzte, hatte er seine Frage bereits fünf Mal leise ausgesprochen.
»Warum bin ich nur gegangen?«
Und keine Antwort auf sie gefunden. Also formulierte er die Frage ein wenig lauter um.
»Warum bin ich nicht geblieben?«
Eine ziemlich ähnliche Frage, weitere fünf Mal, und dieselbe Antwort: keine Ahnung.
Als das dritte Bier und der fünfte Schluck Wodka in seinem Körper wirkten, brach er in Tränen aus. Träge, schwere Tränen, die über seine gegerbte Haut liefen.
Man kann wegen etwas weinen, was man verloren hat, oder weil man etwas nicht bekommen hat. Man kann aus vielen trivialen oder zutiefst tragischen Gründen oder völlig grundlos weinen. Oder man heult einfach, weil man flüchtig etwas wahrgenommen hat, was ein Tor zur Vergangenheit aufgestoßen hat.
Jelles Tränen hatten einen konkreten Grund. Die einäugige Vera. Aber er wusste, dass die Quellen seiner Tränen tiefer lagen. Es ging bei ihnen um seine geschiedene Frau, um ein paar verschwundene Freunde, aber vor allem um die alte Frau auf ihrem Sterbebett in der Strahlenklinik.
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