Die Springflut: Roman (German Edition)
sein Herz raste. Es kam ihm fast so vor, als könnte er es durch den Brustkorb hindurch hören. Es kämpfte wie ein Eisenhammer und begriff nicht, was dieser Mensch auf einmal mit ihm vorhatte. Was glaubte er eigentlich, wer er war?
Oder wozu er fähig war?
Zu nicht sehr viel. Noch nicht. Im Moment zu gar nichts. Im Moment saß er schwitzend und keuchend da und versuchte mit großer Mühe die richtigen Knöpfe auf seinem Handy zu drücken. Schließlich gelang es ihm, und er fand im Internet den Film, der den Mord an Vera zeigte.
Der Clip begann mit dem Rücken eines Mannes, der mit einer Frau schlief, die unter ihm lag. Er und Vera. Er ging noch einmal zum Anfang des Films zurück. Sah man sein Gesicht? Eher nicht. Trotzdem. Er wusste, dass Forss und seine Politruks jedes einzelne Bild unter die Lupe nehmen würden. Der Mann in dem Wohnwagen musste für sie sehr interessant sein. Was passierte, falls es ihnen gelingen sollte, ihn zu identifizieren? Am Tatort eines Mordes? Ausgerechnet Forss?
Der Gedanke gefiel Jelle nicht. Ihm gefiel Forss nicht. Er war ein Dreckschwein, konnte aber eine Menge Unfug anrichten, falls er sich einbilden sollte, Jelle sei in den Mord an Vera verwickelt.
Man würde sehen.
Jelle ließ den Film weiterlaufen. Als sie anfingen, Vera zusammenzuschlagen, schaltete er ab und blickte auf den Katarinavägen hinaus. Diese feigen Schweine, dachte er, sie haben gewartet, bis ich gegangen bin. Als ich noch da war, haben sie sich nicht hineingetraut. Sie wollten Vera alleine fertigmachen.
Die arme Vera.
Er schüttelte den Kopf und strich sich mit der Hand über die Augen. Was hatte er eigentlich für Vera empfunden? Ehe geschah, was nun geschehen war?
Trauer.
Seit sie sich das erste Mal begegnet waren und er gesehen hatte, wie ihre Augen an seinen hingen, als wäre er eine Strickleiter zum Leben. Das war er nicht. Im Gegenteil. In den letzten Jahren war er ein ganzes Stück nach unten geklettert. Nicht ganz bis zum Grund hinunter, wo Vera war, aber er war auch nicht mehr viele Stufen darüber gewesen.
Jetzt war sie tot, und er saß völlig ausgepumpt auf einer Steintreppe in der Nähe von Slussen und dachte an sie und die Tatsache, dass er sie in ihrem Wohnwagen alleine gelassen hatte. Jetzt war die Zeit gekommen, Nacht für Nacht diese Treppen hinauf- und hinunterzusteigen, bis er so gut in Form war, dass er sich den Männern stellen konnte, die Vera ermordet hatten.
*
Bertil Magnusons Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. K. Sedovic hatte Bericht erstattet: In keinem Hotel in Stockholm und Umgebung übernachtete ein Nils Wendt. Wo steckte er? Wenn er überhaupt hier war. Er kannte niemanden mehr in der Stadt, das hatte er diskret herausbekommen. Wendts Name war überall gestrichen worden.
Also?
Bertil Magnuson stand auf und ging zum Fenster. Auf dem Sveavägen rollten lautlos Autos vorbei. Ein paar Jahre zuvor hatte man in allen Büros zur Straße Scheiben aus exklusivem Isolierglas eingesetzt. Eine vernünftige Investition, dachte Bertil, und dann kam ihm ein ganz anderer Gedanke oder vielmehr eine Idee, wo Nils Wendt sich mit seinem widerlichen Gespräch eventuell aufhalten könnte.
D er blondgelockte Junge bremste ein wenig ab. Sein Skateboard war in der Mitte gebrochen. Er hatte es gestern in einem Müllcontainer gefunden und notdürftig geflickt. Die Rollen waren abgefahren, und an dieser Stelle ging es ziemlich steil bergab. Anschließend folgte eine lange Gerade, die zu den bunten Hochhäusern in Flemingsberg führte, vor denen kleine Baumgruppen wuchsen. Hier und da gab es einen Spielplatz. Auf fast jedem Balkon war eine Sattelitenschüssel angebracht. In diesem Vorort lebten viele Menschen, die Fernsehprogramme aus anderen Ländern sehen wollten.
Der Junge schaute zur siebten Etage in einem der blauen Häuser hinauf.
Sie saß in der Küche an einem Holzfurniertisch und rauchte dem Fenster zugewandt, das einen Spaltbreit offen stand, weil sie keinen Rauch in der Wohnung haben wollte. Eigentlich hatte sie das Rauchen schon seit Jahren aufgeben wollen, aber es war ihr einziges Laster, und sie wusste, dass die Summe aller Laster konstant blieb. Wenn sie nicht mehr rauchte, würde sie mit etwas Anderem und Stärkerem anfangen.
Sie hieß Ovette Andersson und war die Mutter von Acke, einem blondgelockten, gut zehn Jahre alten Jungen.
Ovette war zweiundvierzig.
Sie blies ein wenig Rauch durch den Spalt und drehte sich reflexhaft zur Wanduhr um, die schon seit längerem stand.
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