Die Springflut: Roman (German Edition)
Neue Batterien, neue Strümpfe, neue Laken, ein neues Leben, dachte sie. Die Liste war übermächtig lang. Ganz oben stand jedenfalls ein neues Paar Fußballschuhe für Acke. Die würde er bekommen, sobald sie ein bisschen finanziellen Spielraum hatte, das hatte sie ihm versprochen. Wenn die Miete und alles andere bezahlt war, wozu unter anderem recht hohe Schulden beim Gerichtsvollzieher und die Raten für eine Schönheitsoperation gehörten. Sie hatte sich vor ein paar Jahren kreditfinanziert die Brüste vergrößern lassen.
Jetzt musste sie jeden Groschen zwei Mal umdrehen.
»Hallo!«
Acke stellte sein gebrochenes Skateboard ab, ging zum Kühlschrank und holte kaltes Wasser heraus. Er liebte kaltes Wasser. Ovette stellte immer zwei Liter kalt, damit welches da war, wenn er heimkam.
Sie wohnten in einer Zweizimmerwohnung in einem der Hochhäuser. Acke ging in die Annersta-Schule im Zentrum, aber im Moment waren Sommerferien. Ovette zog Acke an sich.
»Ich muss heute Abend arbeiten.«
»Ich weiß.«
»Es könnte ziemlich spät werden.«
»Ich weiß.«
»Hast du heute Fußballtraining?«
»Ja«, log Acke sie an.
»Vergiss deinen Schlüssel nicht.«
»Nein.«
Acke hatte schon immer einen Schlüssel gehabt. Einen großen Teil des Tages kam er alleine zurecht. Wenn seine Mutter zum Arbeiten in der Stadt war, spielte er Fußball, bis es zu dunkel wurde, ging anschließend nach Hause und machte sich warm, was seine Mutter für ihn vorgekocht hatte. Es schmeckte immer gut. Danach spielte er am Computer.
Wenn er nicht etwas anderes tat.
*
Olivia hatte es eilig und hasste Supermärkte, vor allem wenn sie das erste Mal in einem war. Sie hasste es, durch die engen Gänge mit den prall gefüllten Regalen zu irren, um nach einem kleinen Glas Vongole zu suchen, bis sie schließlich irgendeinen halb uniformierten Mitarbeiter ansprechen musste.
»Wie heißt das, was Sie suchen?«
»Vongole.«
»Ist das ein Gemüse?«
An diesem Tag hatte sie jedoch keine Zeit gehabt, sich das Geschäft auszusuchen. Sie kam gerade von der Hauptuntersuchung in Lännersta und war beim ICA Maxi in Nacka von der Straße abgefahren. Vom Parkplatz hastete sie zu den gläsernen Eingangstüren und überlegte, dass sie vermutlich keine Fünf- oder Zehnkronenmünze für den Einkaufswagen dabeihatte und sich deshalb mit einem Plastikkorb würde begnügen müssen. Sie hatte keine Zeit, sich den Fünfziger in ihrer Tasche wechseln zu lassen. Ein paar Meter vor dem Eingang stand ein großer, hagerer Mann mit einer Zeitung in der Hand. Einer dieser Obdachlosen, die davon lebten, Situation Stockholm zu verkaufen. Der Mann hatte ein paar kleine Wunden im Gesicht, seine langen Haare waren verfilzt und glänzten fettig, seinen Kleidern nach zu urteilen hatte er die letzten Wochen in Erdbodennähe verbracht. Olivia schielte zu ihm hinüber. Auf dem Namensschild um seinen Hals stand » JELLE «. Sie eilte an ihm vorbei. Manchmal kaufte sie eine Zeitung, diesmal jedoch nicht, dafür hatte sie es zu eilig. Sie trat durch die rotierende Glastür und blieb abrupt stehen. Langsam drehte sie sich um und betrachtete den Mann vor dem Eingang eine Weile. Ohne wirklich zu wissen, warum, ging sie wieder zurück, blieb in zwei Meter Entfernung von ihm stehen und musterte ihn. Der Mann drehte sich zu ihr um und kam auf sie zu.
»Situation Stockholm?«
Olivia wühlte in ihrer Tasche, zog den Fünfziger heraus, hielt ihn hoch und studierte gleichzeitig das Gesicht des Mannes, der den Geldschein annahm und ihr das Wechselgeld und eine Zeitung reichte.
»Danke.«
Olivia nahm die Zeitung und formulierte ihre Frage.
»Heißen Sie zufällig Tom Stilton?«
»Ja? Wieso?«
»Auf dem Schild da steht Jelle?«
»Tom Jesper Stilton.«
»Okay.«
»Wieso?«
Olivia ging schnell an dem Mann vorbei, trat ein zweites Mal durch die Drehtür, blieb an derselben Stelle stehen wie zuvor, atmete ruhiger und drehte sich um. Der Mann packte seinen Zeitungsstapel in einen abgewetzten Rucksack und machte sich auf den Weg. Olivia reagierte nur langsam. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, aber irgendetwas musste sie tun. Also ging sie wieder hinaus und dem Mann hinterher, der recht zügig ausschritt. Um ihn einzuholen, musste sie die letzten Meter im Laufschritt zurücklegen. Der Mann blieb nicht stehen, bis Olivia sich ihm in den Weg stellte.
»Was ist los? Wollen Sie etwa noch eine Zeitung haben?«, fragte er.
»Nein. Ich heiße Olivia Rönning und gehe auf die Polizeischule.
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