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Die Springflut: Roman (German Edition)

Die Springflut: Roman (German Edition)

Titel: Die Springflut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cilla Börjlind , Rolf Börjlind
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Ich möchte mit Ihnen über den Ufermord auf Nordkoster sprechen.«
    Das verlebte Gesicht des Mannes verriet keine Reaktion. Er drehte sich nur um und lief einfach auf die Straße. Ein Auto musste abrupt bremsen, und eine Kotelettenfrisur am Steuer reckte den gestreckten Mittelfinger hoch. Der Mann ging weiter. Olivia blieb lange stehen, so lange, dass sie ihn in einiger Entfernung um eine Hausecke gehen sah, und so erstarrt, dass sich ein älterer Herr bemüßigt fühlte, sie behutsam anzusprechen.
    »Geht es Ihnen gut?«
    Olivia ging es überhaupt nicht gut.
    Sie setzte sich in ihr Auto und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Der Wagen stand auf dem Parkplatz des Supermarkts, vor dem sie soeben dem Mann begegnet war, der sechzehn Jahre lang die Ermittlungen in dem Mordfall auf Nordkoster geleitet hatte.
    Dem ehemaligen Kriminalkommissar Tom Stilton.
    »Jelle«?
    Wie konnte er aus Jesper nur Jelle machen?
    Laut ihrem Dozenten war er einer der besten Mordermittler Schwedens mit einer der steilsten Karrieren in der Geschichte der Polizei gewesen. Heute verkaufte er Situation Stockholm. Ein Penner in einer erbärmlichen körperlichen Verfassung. So erbärmlich, dass Olivia sich regelrecht hatte zwingen müssen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er es wirklich war.
    Aber er war es.
    Als sie in der Königlichen Bibliothek die Zeitungsartikel zum Ufermord gesichtet hatte, waren eine Menge Bilder von Stilton dabei gewesen, außerdem hatte sie bei Gunnar Wernemyr in Strömstad ein altes Foto von ihm gesehen. Seine intensiven Augen hatten sie fasziniert, und ihr war auch nicht entgangen, dass er attraktiv und markant ausgesehen hatte.
    So sah er heute nicht mehr aus.
    Der körperliche Verfall hatte seinem Äußeren alles Persönliche genommen, sogar seine Augen waren erloschen. Sein hagerer Körper trug widerwillig einen langhaarigen Kopf, der definitiv geistesabwesend war.
    Trotzdem war es Tom Stilton gewesen.
    Sie hatte instinktiv reagiert. Als sie an ihm vorbeiging, war ein flüchtiges Gefühl an ihr vorübergehuscht und hatte sich erst zu einem Bild geformt, als sie hinter der Drehtür innehielt: Tom Stilton? Das war unmöglich. Das war … und dann war sie wieder zurückgegangen und hatte sein Gesicht studiert.
    Die Nase. Die Augenbrauen. Die deutlich erkennbare Narbe im Mundwinkel.
    Er war es.
    Und jetzt war er verschwunden.
    Olivia beugte sich nach rechts. Auf dem Beifahrersitz lag ein Notizblock, in dem eine ganze Reihe von Fragen zum Ufermord stand, die formuliert worden waren, um dem verantwortlichen Ermittler gestellt zu werden.
    Tom Stilton.
    Einem schäbigen Penner.
    Dieser Penner hatte sich am Ufer des Järlasjön niedergelassen. Der Rucksack hing noch auf seinem Rücken. Hier, unweit seines Holzschuppens, saß er von Zeit zu Zeit. Ein paar dichte Sträucher, langsam fließendes Wasser unter einer alten Holzbrücke, Stille.
    Er zog einen Ast von einem Strauch neben sich, riss die Blätter ab, steckte ihn tief hinein und rührte in dem braunen Wasser um.
    Er war verstört, aber nicht, weil man ihn erkannt hatte, denn damit musste er leben. Er war nun einmal Tom Jesper Stilton und hatte nicht die Absicht, seinen Namen zu ändern. Sondern wegen dem, was die junge Frau gesagt hatte, die sich ihm in den Weg gestellt und ihn so verblüfft angesehen hatte.
    Olivia Rönning.
    Der Name war ihm vertraut, sehr vertraut.
    »Ich möchte mit Ihnen über den Ufermord auf Nordkoster sprechen.«
    Es gab solche und solche Ewigkeiten. Und es gab Äonen. Die Ewigkeit der Ewigkeiten. So ungefähr empfand Stilton den Abstand zu seiner Vergangenheit. Dennoch bedurfte es nur eines einzigen Worts, um die Äonen zur Größe einer Zecke schrumpfen zu lassen, die lustvoll in ihn eindrang.
    Ufermord.
    Wie lapidar das klingt, dachte er. Ein leicht konstruiertes Wort. Ufer und Mord. Er selbst hatte es jedoch nie in den Mund genommen, weil es in seinen Augen einen der abscheulichsten Mordfälle verharmloste, in denen er jemals ermittelt hatte. Es klang nach einer Schlagzeile. Er hatte stattdessen immer vom Nordkoster-Fall gesprochen. Konkret. Polizeilich.
    Und ungelöst.
    Warum Olivia Rönning sich für Nordkoster interessierte, ging ihn nichts an. Sie kam aus einer anderen Welt. Aber sie hatte eine Zecke in seinem mentalen Körper platziert. Sie hatte eine Kerbe in seine Befindlichkeit geschlagen und der Vergangenheit Zugang verschafft, und das störte ihn. Er wollte nicht gestört werden, nicht von der Vergangenheit und definitiv

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