Die Springflut: Roman (German Edition)
sechsundzwanzig und fünfunddreißig schwanken. Als er einem Mädchen aus der Provinz weismachen wollte, er sei »Anfang zwanzig«, wäre er fast zu weit gegangen, aber sie war neu in der Stadt und wollte Spaß haben, so dass sie nichts sagte, obwohl sie eigentlich schon fand, dass er ein bisschen älter aussah.
»Diese Stadt hat ihren Preis«, hatte er ihr gesagt, und es hatte sich angehört, als wäre New York ein Vorort von Stockholm.
Aber Ovette war kein Landei und wusste, wie alt der Nerz war, so dass er ihr nichts vormachen musste.
»Danke, dass du gekommen bist.«
»Der Nerz kommt immer«, erwiderte er lächelnd und fand, dass er ein Meister des doppelten Wortsinns war. Diese Ansicht teilten nur wenige. Die meisten hielten ihn sich ein bisschen vom Leib, sobald sie seine ziemlich oberflächliche Persönlichkeit durchschaut und einmal zu viel von seinen einmaligen Abenteuern gehört hatten. Zum Beispiel, dass er den Mord an Olof Palme aufgeklärt oder Roxette entdeckt hatte. Daraufhin zogen sich viele zurück, wodurch ihnen entging, dass der Nerz unter einer Schale aus halb verzweifeltem Jargon ein großes Herz besaß, das nun heftig pochte, als er die Bilder sah, die Ovette ihm auf ihrem Handy zeigte. Bilder von einem fast nackten kleinen Jungen mit einem grün und blau geschlagenen Körper voller verschorfter Wunden.
»Ich habe sie gemacht, als er schlief.«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung, im Hort sagen sie, es wäre nichts gewesen, er selbst sagt, die wären vom Fußball.«
»Solche Verletzungen holt man sich nicht beim Fußball, ich habe viele Jahre gespielt, und natürlich hat man im Strafraum auch mal was abbekommen, ich war Mittelstürmer, aber so hat man nie ausgesehen.«
»Nein.«
»Scheiße, er sieht aus, als wäre er vermöbelt worden!«
»Ja.«
Ovette wischte sich schnell ein paar Tränen aus den Augen. Der Nerz sah sie an und nahm ihre Hand in seine.
»Soll ich mal mit ihm reden?«
Ovette nickte.
Der Nerz nahm sich vor, ein ernstes Wort mit dem jungen Acke zu reden.
Fußball?
Nie und nimmer.
*
Es war kurz vor Ladenschluss. Die Geschäfte in der Sibyllegatan machten nach und nach zu. Die Boutique Schräg & Schick war jedoch noch hell erleuchtet. Jackie Berglund hielt ihren Laden immer eine Stunde länger geöffnet als die anderen. Das wussten ihre Kunden und konnten deshalb in letzter Minute hereinschneien und sich ein Kleidungsstück oder einen Einrichtungsgegenstand besorgen, um der Abendgesellschaft noch einen besonderen Touch zu verleihen. Momentan handelte es sich um einen vornehmen älteren Herren, der nach etwas suchte, womit er seine Gattin besänftigen konnte. Er hatte am Vortag ihren Namenstag vergessen, was unschöne Folgen gezeitigt hatte, wie er sagte.
»Es war ausgesprochen unschön«, erklärte er und befingerte ein Paar Ohrringe, die zwischen anderen echten Schmuckstücken hingen.
»Was kosten die hier?«
»Weil Sie es sind, siebenhundert.«
»Und bei anderen?«
»Fünfhundert.«
In diesem Stil unterhielten sich Jackie Berglund und ihre wohlhabenden Kunden und machten ihre debilen Scherze.
Aber es ging immer ums Geschäft.
»Was meinen Sie, würden die meiner Frau gefallen?«, fragte der Herr.
»Frauen haben eine Schwäche für Ohrringe.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
Da der ältere Herr keine Ahnung hatte, wofür Frauen eine Schwäche hatten, nahm er die Boutiquebesitzerin beim Wort und verließ das Geschäft mit einem Paar Ohrringe in einer hübschen, rosafarbenen Geschenkverpackung. Als die Ladentür zufiel, klingelte Jackie Berglunds Handy.
Es war Carl Videung.
Mit auffallend deutlicher Stimme und ohne größere Hörprobleme informierte er sie über eine Besucherin, eine junge Frau von der Polizeischule, die sich nach seinem Escortservice in früheren Zeiten erkundigt hatte. Er habe sich halb tot gestellt, um herauszufinden, worauf sie eigentlich hinauswollte.
»Es macht einen immer neugierig, wenn es nach Bullen riecht«, sagte er.
»Und was wollte sie?«
»Keine Ahnung, aber sie hat nach dir gefragt.«
»Nach mir?«
»Ja. Und danach, wer außer dir bei Gold Card gearbeitet hat.«
»Und was hast du ihr gesagt?«
»Ich habe ihr den Namen Miriam Wixell gegeben.«
»Warum denn das?«
»Weil Miriam sich auf ihre nicht so nette Art aus allem rausgezogen hat, erinnerst du dich?«
»Ja. Und?«
»Und da dachte ich, dass es der feinen Miriam vielleicht ein bisschen peinlich ist, wenn angehende Polizistinnen in ihrer Vergangenheit
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