Die Springflut: Roman (German Edition)
sahen, spielte das eigentlich nie eine Rolle. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die gleiche Herkunft, kannten die Schwächen des anderen und mochten sich trotzdem.
Mit ihm würde sie sprechen können: dem Nerz.
Oliva brauchte einige Zeit, um ihn aufzuspüren, aber als sein Name unter den Bewohnern eines Altenheims in Silverdal auftauchte, hatte sich die Mühe gelohnt.
Sie war verblüfft.
Das Heim lag ganz in der Nähe ihrer Polizeischule.
Die Welt ist klein, dachte Olivia, als sie den Wagen auf den ruhigen Weg lenkte und vor dem Gebäude parkte. Zwischen den Bäumen taucht schemenhaft die Schule auf, deren Atmosphäre ihr seltsamerweise sehr fern zu sein schien. Dabei war es noch gar nicht so lange her, dass sie dort auf einer Bank gesessen und einen Fall gefunden hatte, ohne zu wissen, wohin er sie noch führen würde.
In diesem Moment führte er sie zwei Etagen nach oben und auf eine kleine Terrasse hinaus, auf der gekrümmt in einem Rollstuhl ein Mann saß.
Der frühere Pornokönig Carl Videung.
Mittlerweile war er fast neunzig Jahre alt, hatte sie ermittelt. Er hatte keine Angehörigen und freute sich über jede Abwechslung in seinem Siechtum.
Egal welcher Art.
Diesmal kam sie in Gestalt Olivia Rönnings. Ihr wurde schnell klar, dass Videung extrem schwerhörig war und darüber hinaus Probleme mit dem Sprechen hatte. Also musste sie in kurzen, lauten und deutlichen Formulierungen sprechen.
»Jackie Berglund!«
Doch zwei Kaffeetassen und einige Zimtkekse später tauchte der Name in Videungs Kopf auf.
»Sie war Escortgirl.«
So verstand Olivia mit etwas Mühe.
»Erinnern Sie sich noch an andere Escortgirls!«
Nach einer neuen Tasse Kaffee und weiteren Zimtkeksen nickte Videung schließlich.
»An wen?!«
Diesmal half auch der Kaffee nicht mehr, und die Kekse waren alle. Der Mann im Rollstuhl sah Olivia nur an und lächelte anhaltend. Taxiert er mich?, dachte Olivia. Überlegt der alte Lustmolch, ob ich als Escortgirl in Frage käme? Dann machte der Mann eine Geste, die anzeigte, dass er etwas schreiben wolle. Olivia holte schnell einen Stift und einen kleinen Notizblock heraus und reichte Videung beides. Er konnte den Block nicht selbst halten, so dass Olivia ihn auf sein mageres Knie pressen und festhalten musste. Er schrieb mit einer Handschrift, die auf die neunzig zuging, aber dennoch lesbar war.
Miriam Wixell.
»Eins der Escortgirls hieß Miriam Wixell!?«
Videung nickte und ließ lange und vernehmlich einen fahren. Olivia drehte den Kopf von dem widerwärtigen Geruch fort und klappte den Block zu.
»Wissen Sie noch, ob eine der Frauen ausländischer Herkunft war?«
Videung lächelte und hielt einen Zeigefinger hoch.
»Eine von ihnen?«
Videung nickte erneut.
»Erinnern Sie sich, woher sie kam?«
Videung schüttelte den Kopf.
»Hatte sie schwarze Haare?«
Videung drehte sich ein bisschen und zeigte auf ein Usambaraveilchen in einem Topf auf der Fensterbank. Olivia betrachtete die Blume.
Sie war leuchtend blau.
»Sie hatte blaue Haare?«
Videung nickte und lächelte erneut. Blaue Haare, dachte Olivia. Hieß das, sie waren gefärbt? Färbte man sich die Haare blau, wenn man von Natur aus schwarze hatte? Durchaus möglich. Was wusste sie schon darüber, wie sich Escortgirls in den Achtzigern die Haare gefärbt hatten?
Nichts.
Sie stand auf, dankte Videung und verließ die Veranda, um einem weiteren Fanfarenstoß aus dem Hinterteil des früheren Pornokönigs zu entgehen.
Jedenfalls hatte sie einen Namen bekommen.
Miriam Wixell.
*
Ovette hatte sich für einen Tisch im hinteren Teil des Cafés entschieden. Sie wollte keinen Kolleginnen begegnen. Sie saß mit dem Rücken zum Eingang, und vor ihr stand eine Tasse Kaffee. In dem Lokal durfte man nicht rauchen, weshalb sich ihre Hände rastlos über den Tisch bewegten. Sie schob Zuckerstreuer und Besteck hin und her und fragte sich, ob er kommen würde.
»Hi, Ovette!«
Er war gekommen.
Der Nerz schob sich zu ihrem Tisch, warf den kleinen Pferdeschwanz in den Nacken und setzte sich. Er war bestens gelaunt, da er gerade kurz in einem Wettbüro vorbeigeschaut, auf Platz gesetzt und gewonnen hatte. Vierhundert bar auf die Hand, die schon in seiner Tasche brannten.
»Wie viel hast du gewonnen?«
»Viertausend!«
Der Nerz hängte immer mindestens eine Null an, es sei denn, es ging darum, wie alt er war. Dann lief es umgekehrt. Er war einundvierzig, aber abhängig von seiner Begleitung konnte sein Alter leicht zwischen
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