Die Springflut: Roman (German Edition)
zeigte wieder auf die Karte.
»In der Wand unter der Abdeckung ist eine schmale Metallstiege verankert, die man ungefähr fünfzehn Meter tief hinunterklettern muss, bis man zu einer Eisenluke kommt, hinter der sich ein weiterer Schacht befindet …«
»Der zu dem Raum im Fels führt?«
»Ja, aber das ist …«
Der Mann verstummte.
»Das ist ein echt verdammt enger Schacht.«
»Und er ist lang und stockfinster«, ergänzte die Frau.
»Okay.«
Stilton nickte. Die Frau faltete die Karte zusammen. Der Mann sah Stilton an.
»Du hast ja wohl hoffentlich nicht vor, über den Schacht da reinzugehen?«
»Nie im Leben.«
»Das ist gut so, du würdest da nämlich nicht durchpassen.«
Der Nerz rief an, als Stilton auf dem Rückweg vom Hammarby-Hafen war.
»Hast du dich mit ihnen getroffen?«
»Ja.«
»Wussten sie was?«
»Ja.«
»Es gibt in Årsta einen unterirdischen Raum im Fels?«
»Ja.«
»Okay, dann wissen wir das.«
»Wir«, dachte Stilton und fand, dass der Nerz sich ein bisschen anhörte wie früher. Glaubte er, dass sie jetzt wieder eine Art Team waren?
»Was hast du jetzt vor?«, fragte der Nerz.
»Ich werde ihn mir ansehen.«
*
Er würde mit Hilfe der Metallstiege an der Wand in den engen Schacht unter der Abdeckplatte hinuntersteigen. In fünfzehn Meter Tiefe würde es dann eine Eisenluke in der Felswand geben. Wenn er Glück hatte, stand sie offen. Wenn er noch mehr Glück hatte, würde er seinen Körper hineinzwängen und sich auf dem Bauch robbend durch einen stockfinsteren Schacht vorwärtsbewegen können, in dem es unmöglich sein würde, sich umzudrehen. Wenn er nicht mehr weiterkam, würde er deshalb versuchen müssen, sich wieder zurückzuschieben, und konnte nur hoffen, dass er dabei nicht stecken blieb.
Es war einer seiner regelmäßig wiederkehrenden Alpträume, irgendwo festzustecken. Es waren in jedem Traum andere Orte, aber das Szenario war immer gleich: Er lag eingeklemmt, hing fest und wusste, dass er sich niemals befreien können würde. Dass er in einem Schraubstock des Grauens dahinsiechen musste.
Nun hatte er also vor, sich diesem Albtraum freiwillig aus zusetzen. Er würde in einen unbekannten Felsschacht hin einrobben, der wenig größer war als ein menschlicher Körper.
Wenn er darin stecken blieb, dann für immer.
Sehr langsam kletterte er die Metallstiege hinunter. Dicke schwarze Spinnen krabbelten über die Wände. Auf halber Strecke dachte er, dass die Luke vielleicht doch nicht offen stand, aber das war eine verbotene Hoffnung, die er schnell wieder verdrängte.
Die Luke stand natürlich offen.
Zumindest halboffen. Stilton drückte sie mit dem Fuß möglichst weit auf und schaffte es, seinen Oberkörper durch die Öffnung zu schieben. Er schaute hinein, was allerdings einigermaßen sinnlos war. Es war nur ein schwarzes Loch. Als er seine kleine Taschenlampe einschaltete, sah er, dass sich der Schacht nach ein paar Metern krümmte und man nicht erkennen konnte, wohin er danach führte.
Er zwängte sich ganz durch die Öffnung und stöhnte auf. Der Schacht war viel enger, als er sich das vorgestellt hatte. Er lag mit ausgestreckten Armen auf dem Bauch und begriff, was für eine idiotische Idee das war, aber dann dachte er an Vera, schaltete die Taschenlampe aus und robbte weiter.
Um voranzukommen, musste er sich mit den Zehen abdrücken. Hob er den Kopf, schlug er gegen den Fels. Senkte er ihn, schürfte sein Kinn über den Grund. Er kam nur sehr langsam voran, aber er kam voran. Zentimeter für Zentimeter schob er sich durch den schwarzen Schacht. Schweiß lief seinen Hals hinab. Es dauerte eine Weile, bis er sich der Biegung näherte, die er gesehen hatte. Dort würde er eine Entscheidung treffen müssen. Wenn die Krümmung zu stark war, würde er niemals hindurchpassen. Die Gefahr, stecken zu bleiben und seinen Alptraum zu erleben, wäre dann zu groß.
Jetzt hatte er die Biegung erreicht.
Er schaltete die Taschenlampe ein und sah gut einen Meter vor sich die gelben Augen einer Ratte. Das machte ihm nichts aus. Wenn man einige Jahre als Obdachloser gelebt hatte, wurde rattus norvegicus zu einem guten Bekannten. Ratten waren oft die einzige Gesellschaft, die es gab. Wahrscheinlich empfand das Tier ähnlich, denn nach ein paar Sekunden machte es kehrt und verschwand hinter der Biegung.
Stilton robbte der Ratte hinterher und in die Biegung hinein. Auf halbem Weg kam er nicht mehr weiter. Der Winkel war zwanzig oder dreißig Zentimeter zu steil, was Stilton
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