Die Spur der Kinder
panisch durch den Raum. Doch da war niemand mehr. Auch die Turnschuhe und der giftgrüne Dinosaurier des kleinen Jungen lagen nicht mehr auf dem Tisch. Und anstelle der Kiste war nichts weiter als eine große, dunkle Lache zurückgeblieben. Reflexartig sah Anne zum Wandregal auf. Sämtliche Gläser mit Rasierklingen waren verschwunden.
Wasgeht hier vor? Warum hat er es nicht zu Ende gebracht?
Sie hob ihre blutdurchtränkte Bluse hoch und betrachtete die aufklaffende Schnittwunde, die auf ihrem Bauch brannte.
Ein Kreuz.
Und plötzlich überkam sie ein unbestimmtes Gefühl. Was auch immer mit dem Jungen geschehen war, für sie war ein anderer Tod vorgesehen.
Freitag,19. Juni
(In Berlin)
Die Feier war bereits in vollem Gange, als Fiona in einem schwarzen Etuikleid im Restaurant auftauchte. »Es wird dir sicher guttun, mal wieder unter Leute zu kommen«, hatte Adrian seit Tagen auf sie eingeredet.
Es waren fast ausschließlich Stammgäste geladen. Viele waren gekommen, doch bei weitem nicht so viele, wie er erwartet hatte. Und wäre es nach Fiona gegangen, wäre sie ebenfalls in ihrem Arbeitszimmer geblieben.
Adrian hatte sich in seinem neuen Armani-Anzug unter die Gäste gemischt. So auch Fiona, deren Aufmerksamkeit während belangloser Smalltalks immer öfter den vorbeiziehenden Champagnergläsern galt, die die Angestellten auf kleinen Tabletts im Slalom durch die Menge manövrierten. Ihr Mund wurde immer trockener und das Geklimper der Gläser immer lauter. Mehr und mehr tratendie Jazzmusik und das Stimmengewirr der Gäste in den Hintergrund.
Volle sechs Tage hatte Fiona nun schon ihre Finger vom Alkohol gelassen. Reiß dich zusammen. Du kannst jetzt nicht aufgeben .
Allmählich klärte sich ihr Blick wieder. Und als eine dreistöckige Torte hereingefahren wurde, holte sie der Applaus der Gäste endgültig ins Hier und Jetzt zurück.
Vier Jahre RIEDELEI , stand in rotem Zuckerguss auf weißer Buttercreme zwischen den brennenden Kerzen geschrieben, die Adrian jetzt ausblies. Und kurzzeitig hatte Fiona wieder jenen gutaussehenden, humorvollen Mann vor Augen, der damals einen kleinen Weinladen am Ende der Torstraße betrieben und ihr mit leuchtenden Augen von seinem Traum erzählt hatte, irgendwann ein eigenes Nobelrestaurant zu eröffnen. Unmittelbar nach ihrer Verlobung hatte Fiona ihm seinen großen Wunsch erfüllt.
Seither hatte sich vieles verändert. Er hatte sich verändert, sinnierte Fiona, während sie ihren Blick ziellos durch die Menge schweifen ließ. Rolf Jobst, Stammgast und enger Freund von Adrian, prostete ihr von weitem zu. Sie fragte sich gerade, ob seine platinblonde, deutlich jüngere Begleitung wieder einmal ein Neuzugang aus seinem Vorzimmer war, als Maria García, Fiona erkannte sie in der ungewohnten Küchenuniform erst auf den zweiten Blick,die silbernen Servierplatten am Buffet erneuerte.
»Hallo, Frau García.« Fiona trat lächelnd auf sie zu.
Maria García blickte auf. »Frau Seeberg, ¡ muchas gracias! Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mir diesen Job besorgt haben!«
»Aber das ist doch selbstverständlich«, sagte Fiona mit einer lapidaren Handbewegung.
»Nein, wirklich, vielen Dank«, lächelte García und wandte sich Richtung Küche um.
»Ach, Frau García – wenn Sie nachher gehen, dann nehmen Sie sich unbedingt noch was von der Götterspeise mit – Luna wird die sicher lieben«, rief Fiona ihr hinterher.
García lächelte beschämt. »Ach, Frau Seeberg, wo wir schon dabei sind – es ist mir etwas peinlich, aber ich konnte keinen Babysitter finden … und da hab ich Luna einfach mitgebracht. Sie ist hinten in der Personalumkleide. Ich hoffe, das ist kein Problem!«
»Problem? Aber nein, das ist doch in Ordnung«, sagte Fiona sichtlich erfreut. Sie schnappte sich eine große Schale vom Buffet, füllte sie mit Götterspeise und lief nach hinten in die Personalumkleide. Sophie hatte Götterspeise geliebt.
»Na,wen haben wir denn da?«, fragte sie lächelnd.
Luna saß am Tisch vor der Garderobe und malte etwas mit Wachsmalstiften auf ein Stück Pappe. Sie war völlig in ihr Tun versunken und schien die Ruhe selbst zu sein.
Noch so eine Parallele zu Sophie.
Fiona ging neben Luna in die Hocke.
Luna kicherte. Dann sprang sie auf und zeigte Fiona stolz ihr Kunstwerk auf Pappe.
»Das da ist Mister Brown, mein Hamster! Mama hat gesagt, er muss heute zu Hause bleiben.«
Milde lächelnd betrachtete Fiona das braune
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