Die Spur der Kinder
doch alle mal«, zischte Behrendt und lief zurück zum Wagen.
Hannes Jäger, der mit einem Fragebogen, wie man ihn aus der Polizeischule kennt, auf sie zukam, sah ihr irritiert hinterher. Dann reichte er Piet Karstens ein transparentes Plastiktütchen mit einer durchweichten Brieftasche. »Die hier haben wir bereits sichergestellt, die trug die Tote hinten in ihrer Hosentasche. Das Geld war noch drin. Ganze vierhundert Euro. Einen Raubmord können wir also ausschließen.«
»Vierhundert Euro. Ist ’ne Stange Geld.«
»Das können Sie laut sagen«, stimmte Jäger zu.
»Was hattest du nur damit vor, Mädchen?«, murmelte Karstens und betrachtete die Tote abwesend. Dannfingerte er die Brieftasche aus der Tüte und studierte den Personalausweis.
»Anne Lemper. Achtzehn Jahre. Kommt aus – aus Rostock? Wie kommt die denn von Rostock hierher?«
»Tja, gute Frage. Könnte eine Tramperin gewesen sein.«
»Liegt eine Vermisstenmeldung vor?«, fragte Karstens, gab Jäger die Tüte zurück und streifte seine Latexhandschuhe ab.
Hannes Jäger schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber wir haben bereits die Eltern ausfindig machen können. Nach Angaben der Mutter wollte das Mädchen mit ihrem Freund nach Italien. Seitdem hatten die Eltern nichts mehr von ihrer Tochter gehört …«
Nachdenklich ließ Piet Karstens seinen Blick Richtung Wald schweifen. »Was auch immer hier vor sich geht, niemand hört dich, wenn du schreist …«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts«, meinte Karstens, griff in seine Jacketttasche und zog einige Fotos heraus. »Haben Sie diese Kinder zufällig schon mal in der Nähe gesehen?«
»Das sind diese entführten Kinder, nicht wahr?«, fragte Jäger, während er die Bilder betrachtete. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, da muss ich passen.«
Karstens steckte die Fotos wieder ein und blickteein weiteres Mal zum Wald und dem urwüchsigen Fluss hinüber. Dann lief er die Böschung hinauf zum Wagen, in dem Behrendt bereits ungeduldig auf ihn wartete.
***
(Am selben Nachmittag in Berlin)
Das Gelächter spielender Kinder zog am Fenster ihres Arbeitszimmers vorbei und verhallte in der Schwüle des späten Nachmittags, während Fiona krampfhaft versuchte, sich auf ihr Manuskript zu konzentrieren. Sie stopfte sich Ohropax in die Ohren, kaute nachdenklich an ihrem Bleistift und las das letzte Kapitel noch einmal.
»Auch am vierten Tag blieb die Großfahndung der Polizei nach Katrin Tauberts Tochter erfolglos. Dennoch war es für Katrin ein entscheidender Tag, ein Tag, an dem sie alles bereute. Ihre verkorkste Ehe mit Lars. Ihren Job als Kassiererin in der Kleinmarkthalle. Sogar ihre Schwangerschaft mit Indira. So makaber es auch klang, aber der Tod ihrer Tochter erschien ihr mehr und mehr wie ein Ausweg aus einem Leben, das ihr schon lange über den Kopf gewachsen war, wie ein Geheimgang, der sich ihr unverhofft offenbart hatte. Wie ein stilles Aufatmen …«
Versunkenrieb sich Fiona die Schläfen, tippte ein paar Zeilen und löschte sie wieder. Nach einer Weile gab sie es schließlich auf. Sie nahm das leere Glas von der Tischplatte, auf der außer ihrem Laptop noch eine Tasse kalter Kaffee und ein gerahmtes Bild von Sophie standen, und lief, die letzte Zeile in sich hineinmurmelnd, Richtung Küche, als sie Adrian im Wohnzimmer erspähte. Er kniete vor dem Kachelofen.
»Adrian, ich wusste gar nicht, dass du schon da bist«, meinte sie und nahm die Stöpsel aus den Ohren. »Was machst du denn da?«
Er schien ebenfalls überrascht und erhob sich schlagartig.
»Hast du etwas verloren?«, fragte Fiona, während er sein Hemd glattstrich. Mit einem Mal kam ihr der Schlüssel wieder in den Sinn, den sie vergangene Woche unter dem Kachelofen entdeckt hatte. Kurz überlegte sie, ob Adrian ihn benutzt hatte. Und wenn ja, wofür? Und wozu diese Geheimniskrämerei?
Adrian vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Ich? Nö, gar nichts«, meinte er achselzuckend, »ich dachte, da sei ein Wachsfleck auf den Dielen. War aber nur Staub.«
»Ein Wachsfleck«, wiederholte Fiona und blickte auf den Holzboden. Für einen Moment kam ihr in den Sinn, Adrian auf den Schlüssel anzusprechen, entschied sich aber dagegen.
»Bineben erst heimgekommen, im Laden war nicht viel los heute«, sagte er. »Und du? Solltest du nicht längst bei diesen Leuten sein?«
Fiona zog eine Augenbraue hoch und sah ihn verärgert an.
»Bei den Anonymen Alkoholikern«, verbesserte er sich, jede Silbe hämisch betonend.
»Ja, sollte ich
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