Die Spur der Kinder
vorging.
»Noch einen Champagner?«, fragte eine vorbeieilende Kellnerin.
Adrian nickte und nahm ein Glas, das er sogleich in einem Zug hinunterstürzte.
Besorgt musterte ihn Fiona. »Ist dir nicht gut? Du siehst auf einmal so blass aus.«
Er schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ist nur die Aufregung, der ganze Stress der letzten Tage.« Dann gab er Theresa die Hand. »Verzeihung, Adrian.«
»Theresa«, erwiderte sie und musterte ihn mit hochgezogenenAugenbrauen. Und unerwartet kehrte ein triumphierendes Lächeln in ihr Gesicht.
Fiona schaute abwechselnd zu Adrian und Theresa. »Kennt ihr euch?«
Adrian lachte durch die Nase. »Nein. Das heißt: jetzt schon.« Der Scherz klang bemüht.
Für einen Augenblick hing ein Schweigen wie eine Blase zwischen ihnen in der Luft.
»Na dann«, meinte Rolf. »Dann sollten wir vielleicht auch mal wieder joggen gehen, wenn man dabei so reizende Damen trifft, was, Adrian?«
Irritiert blinzelte Adrian. »Joggen?«, fragte er. »Ach, joggen, ja, ja«, lachte er und vermied es, Theresa ein weiteres Mal in die Augen zu schauen.
Samstag,20. Juni
(Lübbenau, rund hundert Kilometer vor Berlin)
»Hörst du das?«, fragte Kalle, beugte sich im Klappstuhl nach vorne und kaute weiter an seinem Grashalm. »Hört sich an wie ein Silberreiher, könnte aber auch ein Schwarzstorch sein, oder was meinst du?«
Kalle drehte den Kopf zu seinem Vater, der neben ihm im Rollstuhl saß und schief lächelnd auf die Angelschnur starrte. Da lachst du nur, was?, feixte Kalle, wohl wissend, dass seinem Vater ein anderes Lächeln nach dem Schlaganfall vor drei Jahren nicht vergönnt war.
»Da! Da war es wieder«, rief Kalle plötzlich und horchte auf. Sein Blick wanderte durch die Baumkronen auf der anderen Seite des Flusses. »Wer weiß, vielleicht ist’s sogar ein Seeadler. Der Franz, der hat neulich erzählt, er hätte einen jungen Seeadler gesehen.«
Dann war wieder alles still. Fast schon zu still, wieKalle fand. Er schob die Angelrute beiseite, beugte sich ächzend zur Kühlbox und holte eine neue Bierflasche heraus. Das kühle Bier zischte beim Öffnen.
»Ist ganz schön heiß heute, was?«, brummelte Kalle, schob seinen Schlapphut zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Der Klimawandel macht eben auch vor dem Spreewald nicht halt. Ts, in zehn Jahren muss man die Hühnchen zum Braten wohl nur noch in die Sonne legen«, lachte er, als plötzlich etwas an der Angelschnur zog.
Kalle griff nach der Rute. Er hatte Mühe, die Schnur aufzukurbeln. Sie hing fest. Mit einem Ausruf des Erstaunens sprang Kalle von seinem Klappstuhl auf, schlüpfte in seine blauweißen Adidas-Latschen und folgte der Angelschnur, bis er knietief im trüben Gewässer stand. Seine kindliche Vorfreude wich jedoch schnell einer Enttäuschung, als lediglich ein giftgrüner, mit Algen benetzter Plastik-Dinosaurier zum Vorschein kam, in dem sich der Köder verheddert hatte.
»Da kann man mal sehen, was die Leute alles ins Wasser werfen!«, rief er seinem Vater kopfschüttelnd zu und wollte gerade zu einem großen Schritt Richtung Ufer ansetzen, als er einige Meter weiter etwas im Schilf erspähte, das von weitem wie ein aufgeblasener Müllsack aussah. Kalle rümpfte die Nase und ging mit dem Dinosaurier in der Hand unbeholfendurchs Wasser darauf zu. Ein fauliger Gestank drang in seine Nase. Kalle schlug das Röhricht zur Seite. Plötzlich hielt er sich die Hand vor den Mund und taumelte einige Schritte im Wasser zurück. Panisch sah er zum Ufer.
»Sie da! Stehen bleiben! Rufen Sie die Polizei!«, brüllte er einer Gruppe Wanderer hinterher und stolperte aus dem Wasser. »Da, da schwimmt eine Tote!«
Verstörte Gesichter blickten ihn an.
Erneut wagte Kalle einen Blick auf den aufgequollenen Körper des Mädchens, der reglos im Schilf trieb. Sie trug eine Shorts und eine Bluse, die irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Ihre langen Haare hatten sich im Gestrüpp verfangen. Ihre Finger waren gekrümmt. Ihre blasse Haut schimmerte grau und grünlich und wirkte dabei fast so, als löste sie sich jeden Moment auf. Kalle blickte in die offenstehenden Augen der Toten. Jegliches Leben war aus ihnen gewichen, und er fragte sich, was diese Augen wohl mit angesehen haben mussten, bevor sie zu Tode erstarrt waren. Auf einmal kroch etwas aus dem leicht geöffneten Mund des Mädchens, das wie der Kopf einer kleinen Wasserschlange aussah. Kalle verschränkte die Arme
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