Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
seine Jacke.
»Bitte, gerne.«
Dann war er weg.
Julia sah auf die Uhr. Jetzt also Bayer. Was sollte sie ihm erzählen? Er hatte eine Frage gestellt. Doch wenn sie wüsste, was sie wollte, brauchte sie ihn nicht. Sie brauchte ihn überhaupt nicht, Fels fand, dass sie ihn brauchte. Sie seufzte, machte sich auf den Weg und wurde zum dritten Mal nass, als sie vom Auto zu Bayers Haus flitzte.
»Ach, Sie«, sagte er, ließ sie ein und im Flur stehen. »Wo bleiben Sie denn?«, kam es aus dem Wohnzimmer, das Julia schon kannte. Sie folgte der Stimme und fand den Raum im Chaos vor, Bücherstapel neben dem Schreibtisch, neben den Sesseln, einen Weg bildend bis zum Sofa, die Regale halb leer.
»Was machen Sie da?«
»Ordnung. Nun setzen Sie sich schon. Oder besser:Würden Sie rasch einen Kaffee machen? Die Maschine steht links, der Kaffee ist im Schrank darüber.«
Na, klasse. Das ging ja gut los. War sie heute die Kaffeetante für jeden? Oder war das ein Test? Würde es ihm etwas über ihr Inneres verraten, wenn sie es tat oder nicht tat. Und wenn, dann was? Unter dem Schreibtisch schaute nur seine Rückseite hervor. Karohemd mit weißen Locken über dem Kragen.
Als sie die Tassen, die sie auf einem Regal über der Spülegefunden hatte, einschenkte, krabbelte Bayer aus seinem Versteck, setzte sich in seinen Sessel und zündete einen Zigarillo an. »Also?«
»Ich habe keine Erfahrung in dem, was hier stattfinden soll«, sagte sie vorsichtig.
»Es ist ganz einfach. Sie reden. Ich höre zu.«
»Und wofür soll das gut sein?« Julia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Damit das, was in Ihrem Kopf so groß und konfus und übermächtig ist, eine Form bekommt.«
»Aha. Und warum soll es das?« Er sprach in Rätseln. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Fels. Sie würde mit ihm zu reden haben.
Bayer hob die Schultern. »Es ist einfacher dann. Sie werden die Wahl haben. Alles ist gut, wenn man die Wahl hat.«
Genau. So wie jetzt. Eine zwischen Pest und Cholera. Aber wenn sie nun schon einmal hier war, konnte sie dem Kauz auch erzählen, worum es ging, musste wohl. Davon, dass sie nicht schlief, von den Träumen und den Bildern, die unverhofft auftauchten und ihren Herzschlag in die Höhe trieben. Von den Morgen, an denen sie nicht aufstehen mochte, von der Schwere und den Gedankenschleifen, die nicht enden wollten.
»Ja, ja«, sagte er. »Das sind alles Symptome.« Er drückte den Zigarillo aus. »Wozu brauchen Sie die denn?«
»Bitte?«
»Wozu Sie diese Symptome benötigen.« Schon wieder diese Ungeduld in seinem Gesicht.
»Überhaupt nicht. Ich brauche sie gar nicht. Wenn ich sie gebrauchen könnte, hätte ich Besseres zu tun, als hier zu sitzen.«
»Und das wäre?« Er schielte zu den Bücherstapeln.
Darauf wusste sie nichts zu sagen.
»Denken Sie ruhig einen Augenblick nach, was schlecht oder gefährlich wäre in Ihrem Leben, wenn Sie Ihre Symptome nicht hätten.« Damit stand er auf und begann, Bücher zu sortieren.
»Besonders stark scheint Sie das ja nicht zu interessieren.«
»Doch. Sicher. Nur kommt morgen jemand, der die Bücher abholt. Ich weiß ja nicht mehr, wohin mit ihnen.« Er bückte sich erneut und ächzte.
»Soll ich Ihnen helfen?« Warum sagte sie das jetzt? Was würde er über sie denken?
»Wenn es Ihnen nützt, meine Frage zu beantworten.«
Bayer zeigte ihr, nach welchem System er die Bücher ordnete, und Julia nahm sich die unteren Regalfächer vor, die dem Alten Mühe bereiteten.
»Ich wäre nicht nach Coesfeld zurückgekommen, wenn das mit den Bildern nicht gewesen wäre«, sagte sie und wunderte sich.
»Ja, und? Was wäre dann anders?« Er hielt ein stark abgenutztes Buch in der Hand, schüttelte den Kopf und stellte es wieder ins Regal.
»Die Arbeit in Düsseldorf war interessant. Ich hatte Freunde, konnte ausgehen. Hier ist es doch …« Wie sollte sie es nennen?
»Öde?« Er grinste.
»Beschaulicher«, sagte sie und grinste zurück, dann kam das Telefon dazwischen. Julia entschuldigte sich mit einem Blick, und Bayer nickte.
»Conrad ist wieder aufgetaucht«, sagte Sven aus dem Telefon.
Julia stieß erleichtert die Luft aus. »Wo hat er denn gesteckt?«
»Das verrät er nicht. Aber gearbeitet hat er. War bei einer Frau.« Pause: »Piotrowsky von der Ausländerbehörde.«
»Ja, und?«
»Sie sieht keine Möglichkeit, den Abschiebebescheid aufzuheben. Die ärztlichen Gutachten würden zwar die Krankheiten von Chalid, dem Vater, bescheinigen, aber nicht
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